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Diemers schachliche Anfänge...

... und seine Sicht zu seiner Schachbegabung

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Meine schachlichen Anfänge

[Diemer 1985 ?]
(E. J. Diemer Ende der 70-er Jahre?)

Zunächst möchte ich darauf eingehen, wodurch ich meine einmalige Begabung entdeckt habe, und wem ich es verdanke.

Ich bin heute 77 Jahre alt. Ich habe im letzten Jahr des ersten Weltkriegs, nämlich 1917 auf 18 durch einen Schulkameraden in Rastatt am dortigen Gymnasium das Schach kennengelernt, und ein Jahr danach bin ich dann nach Baden-Baden übergesiedelt und dort zur Schule gegangen. Ich habe von Anfang an leidenschaftlich Schach gespielt. Auch habe ich bis 1931 gemeint, ich sei ein guter Schachspieler. Ich habe von meinem Vater Schachbücher erhalten, die aber nicht von ihm stammten, sondern offensichtlich vom Großvater meines Vaters mütterlichseits, der Lampert hieß und Lehrer war. Bei seinem Abschied bekam er ein außerordentlich wertvolles Elfenbein-Schachspiel, das ich mehrfach von meinem Vater zu Weihnachten immer wieder repariert geschenkt bekam. Ich habe mich also demgemäß immer wieder gefragt, war mein Urgroßvater ein Schachspieler, er muß es offensichtlich gewesen sein; denn sonst hätte er das Schachspiel nicht geschenkt bekommen.
Ich muß hier nun ein Geheimnis verraten, das mein Leben als Schachspieler entscheidend prägte. Ich habe, es wird mir niemand glauben, ein außerordentlich schlechtes Gedächtnis immer gehabt. Ich war genau aus diesem Grunde immer nur ein mittelmäer Schüler gewesen, nicht etwa aus mangelndem Fleiß oder mangelndem Interesse, ganz im Gegenteil. Ich war ein sehr aufmerksamer Schüler mit vielerlei Interessen. Aber infolge meines schlechten Gedächtnisses konnte ich z.B. keine lateinischen, griechischen oder französischen Worte im Gedächtnis behalten.
Und dieses schlechte Gedächtnis hat dann sozusagen zwangsläufig das erreicht, was ich in der Schachgeschichte bisher geleistet habe.

Wegen dieses schlechten Gedächtnisses habe ich, niemand nimmt mir das ab, aber es ist die reine Wahrheit, niemals ein Schachlehrbuch studiert. Ich habe mich also nicht selbst schachlich erziehen können. Die Begabung war zweifellos vorhanden, aber sie konnte sich nicht so entfalten, wie es erforderlich gewesen wäre, um mich als ehrgeizigen Spieler an höhere Ziele heranzuführen.

Ich erinnere mich noch gut, wie im Januar 1927 zum ersten Mal eine Ausgabe der "Schachblätter" in meine Hände fiel. In dieser Nummer fand ich fast ausschließlich Partien mit der Eröffnung 1.Sg1-f3 (also der Zukunftseröffnung von Réti).
Damals begann das "indische Zeitalter". Auf 1.d2-d4 wurde mit 1.- Sg8-f6 geantwortet, um in entsprechende Variationen der Nimzoindischen, Bogoljubov-Indischen, Königsindischen Systeme zu gelangen.
Auf e2-e4 begann man damals die Aljechin-Verteidigung mit Sg8-f6 zu spielen. Ich glaubte demgemäß, das sei das wahre Schach. Ich kaufte also alle damals erschienenen Bücher über 1.Sg1-f3 oder 1.c2-c4 und analog eben Bücher über die Aljechin-Verteidigung. Ich hatte alle damals vorhandenen klassischen Bücher von Tartakower in meinem Besitz. Hätte ich also ein normales Gedächtnis gehabt und hätte mich einer in die Geheimnisse der Eröffnungen eingeführt, dann wäre bestimmt meine Schachlaufbahn anders verlaufen.

Ich wurde 1931 arbeitslos, und während dieser Zeit war ich mit dem damaligen Schriftführer der Schachgesellschaft in Baden-Baden, Janke, oft zusammen, der für seine Frau das Mittagessen kochte, und wir hatten durch die Wirtschaftskrise bedingt, viel Zeit, hinter dem Ladentisch seiner Frau der Schachleidenschaft zu frönen.
Und so zeigte er mir zum ersten Mal anhand der mir bis dahin völlig unbekannten Bücher von Franz Gutmayer Partien von Morphy und Anderssen mit ihren herrlichen Kombinationen. Für mich war es eine Offenbarung. Während dieser Tage wurde durch diese Partien wie durch einen Zauberstab meine Begabung zu Tage gefördert, die mir am 15. Mai 1931 im Alter von 23 Jahren bewußt wurde. Innerhalb von 14 Tagen spielte ich meinen Schachfreund mit Königsgambit in Grund und Boden. Ich erinnere mich noch sehr gut an meine ersten Partien, die man später im Bilguer, im Handbuch des Sxchachspiels "wildes Muzio-Gambit" nannte. Ich opferte einen Läfer, einen Springer und setzte matt. Ab diesem Augenblick konnte ich Partien spielen, die in dieser Art noch nie gespielt wurden. Ich begann sozusagen meine Partien wie ein Hellseher zu spielen. Ich sah plötzlich in scheinbar ruhigen Stellungen, in denen meine Gegner nicht im entferntesten ahnten, daß über ihren Häuptern bereits "das Schwert des Damokles schwebte", ein Matt. In den letzten ca. fünfzig Jahren habe ich auf diese Weise zahllose Kurz- und Glanzpartien gewonnen.
Theo Schuster hat es anläßlich meines 75. Geburtstags so formuliert, und zwar anhand des Rasenschachs in Baden-Baden, daß bis oben rechts der Weltmeister Karpow zieht, ich aber sozusagen um die Ecke sehe, wozu vielleicht noch Kasparov fähig wäre. Diese Fähigkeit, "mat" zu sehen in Stellungen, wo es keiner meiner meiner Gegner noch nicht einmal ahnte, hat Aljechin immer wieder Sämisch fragen lassen: "Woher nur hat der Diemer das?"


E. J. Diemer


(Orthographie-, Grammatik- und Satzbaufehler korrigiert, Stilistik und Formatierung entsprechen der Quelle. - Anm. d. A.)

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