In den fünfziger
Jahren trat der bekannte Schachmeister Emil Josef Diemer mit seinem berühmten
Blackmar-Gambit hervor. Er wendete dieses Gambit grundsätzlich in jeder Partie
als Anziehender an, wobei es ihm gelang, auch gegen ernstere Gegner beachtliche
Erfolge zu erzielen. Es ging ihm um kombinationsreiche Wendungen und
rücksichtslosen Königsangriff, weshalb er sich auch unter dem Kopfschütteln der
Kenner und solcher, die sich für Kenner hielten, zu der Maxime verstieg, vom
ersten Zug an auf Matt zu spielen. Damit steht er natürlich im Gegensatz zu den
Einsichten der Groß- und Weltmeister, welche das von Steinitz und Lasker
begründete und anerkannte Prinzip der "Balance of Position" und der damit
verbundenen Remisbreite kennen. Allein, dies störte Emil Josef Diemer nicht, dem
es ja gerade darum zu tun war, dem Remis unter allen Umständen aus dem Wege zu
gehen und einen Kampf auf Biegen und Brechen anzustreben. Seine Forschungen und
Erfahrungen mit diesem Gambit stellte er in einem Buche zusammen, das seinerzeit
im ten-Have-Verlag zu Amsterdam herauskam und noch eine Ergänzungsausgabe
erfahren sollte. Meines Wissens kam eine Zweitauflage heraus, und es soll eine
dritte noch kurz bevorstehen.
Ich selbst besitze die erste Auflage aus
dem ten-Have-Verlag mit dem Diagramm auf der Titelseite der Broschüre sowie eine
Zweitauflage mit grünem Umschlag aus dem Rudi-Schmaus-Verlag, eine orangefarbene
Broschüre als Band 2 von Alfred Freidl und eine rötlich-violette Broschüre von
Georg Studier aus dem gleichen Verlag, die den dritten Band darstellt. Studier
ist einer der begabtesten Schüler Diemers. Außerdem besitze ich noch eine blaue
Broschüre "Supertaktik des modernen Gambitspiels" von Gerhart Gunderam, mit
welchem Diemer zahllose Fernpartien gespielt hat, um die Güte "seines Gambits"
zu erhärten. Er steht zwar auch heute noch in regem Briefwechsel mit Gunderam,
zerstritt sich aber auch mit diesem, weil Gunderam das Gambit für derartig
inkorrekt hält, daß er beinahe so gut wie jede Verteidigung für ausreichend
hält, das Gambit zu widerlegen. Es muß leider gesagt werden, daß das
Gunderamsche Buch, selbst wenn der Autor im Grunde recht hätte, schon darum
wenig seriös ist, weil es
(Werner Nicolai 1981)
zahlreiche Druckfehler enthält, und weil dem Verfasser
einige eklatante analytische Irrtümer unterliefen, die den Befürwortern des
Blackmar-Diemer-Gambits Veranlassung gaben, auf diesen Fehlbeurteilungen
herzumzuhacken.
Auch ist das Buch in einem herausfordernden, wenig objektiven
Stile geschrieben. Hinter jeder Analyse, die die Inkorrektheit bzw. den Verlust
von Weiß ausführen soll, steht bei Gunderam ein provozierendes "Aus!". Wer aber
etwas beweisen will, sollte darauf achten, daß ihm selbst keine Schnitzer
unterlaufen. Leider hat Gunderam einfache elementare Mattführungen übersehen,
die er an anderer Stelle als bekannt voraussetzt. Oder er führt eine Analyse mit
einer Figur weiter, die längst geschlagen wurde. Manchmal gibt er sich auch mit
bloßen Schätzungen zufrieden, daß etwa der Besitz von drei oder vier Bauen die
Mehrfigur des Gegners ausgleichen sollten, so daß er den Nachweis einer strengen
Analyse schuldig bleibt. Diemer beschuldigt Gunderam vor allem der
Inkorrektheit, solche Partien als gewonnen bezeichnet zu haben, die gar nicht zu
Ende gespielt worden seien bzw. die Niederlagen verschwiegen zu haben. Eine
zweite Berichtigung und Verbesserung des Gunderamschen Buches erscheint als
dringend notwendig, ehe man dieses überhaupt als ein einigermaßen seriöses Buch
bezeichnen könnte. Auch ein vorurteilsfreierer und objektiverer Stil wäre
erwünscht. Diemer ist auch der Ansicht, daß die Partien des zweifellos genialen,
1981 verstorbenen Franzosen David Gedult von Gunderam nicht kritisch genug
analysiert wurden, weil da auch noch einige Unzulänglichkeiten nachzuweisen
wären.
Emil Josef Diemer begründete in den fünfziger und sechziger
Jahren seine sogenannte Blackmar-Gemeinde. Er schrieb Publikationen in Gestalt
von Heften, deren Summe einen umfangreichen, dicken Band ergeben würden, die er
an alle Interessenten verschickte, die aber letzten Endes doch ein
Verlustgeschäft für ihn waren, da er das Geld nicht wieder hereinbekam, das ihn
die Produktion seiner Veröffentlichungen kostete. Seine Blackmar-Gemeinde blieb
nicht nur regional begrenzt, sondern sie ging um die ganze Welt. Selbst in
Amerika gab es eine Zeitung, "Die Blackmar-Gemeinde ", welche von Nikolaus
Kampars im Staate Wisconsin geleitet wurde.
In Hastings und Eastboume begegnete mir ein Germanist Dr. Richards, welcher ein
polnisch-jüdischer Emigrant und ein begeisterter Anhänger der Blackmar-Gemeinde war.
Ich persönlich bewunderte einen Mann wie Diemer, der jedenfalls jederzeit bereit war, das
Risiko seines Gambits auf sich zu nehmen und damit dem Gegner bereits eine halbe Vorgabe
gewährte, da er sicherlich nichts anderes spielen würde, so daß sich praktisch
jeder Gegner auf ihn vorbereiten konnte. Unter diesem Gesichtspunkt mußten seine Erfolge
doppelt erstaunlich sein und gewürdigt werden.
(E. J. Diemer 1983 ?)
Ich war damals daran interessiert, ihm eine Simultanveranstaltung in Castrop-Rauxel zu vermitteln,
was aber an seinen Forderungen und an der Uninteressiertheit der Vereinskollegen von
Castrop-Rauxel Nord scheiterte. Ich wollte den gewaltigen
Kombinationskünstler einmal aus nächster Nähe erleben, der die verblüffendsten
Kombinationen hervorzaubert wie ein Variete-Magier das Kaninchen aus dem
Zylinder. Da aber meine Vermittlung scheiterte, blieb mir der große Meister nur
immer vom Hörensagen bekannt.
Es wurde auch viel von ihm gesprochen, und zwar durchaus nicht immer Vorteilhaftes. Da erfuhr
man denn seltsame Dinge, die allerdings eher wie stark übertriebene Gerüchte anmuteten.
In England erfuhr ich von eben demselben begeisterten Diemer-Enthusiasten Dr. Richards, daß Diemer ihm
wunderliche Prophezeiungen gemacht habe und u. a. ihn selbst dringlich davor
gewarnt habe, überhaupt sein Domizil nach England zu verlegen, weil die
Britischen Inseln in naher Zukunft durch eine gewaltige Katastrophe im Meere
versinken würden. Emil Josef Diemer wurde auch eine Zeitlang totgesagt. Dann
hieß es wieder, er lebe noch und spiele sogar wieder in alter Frische Turniere
mit gutem Erfolge wie einst im Mai.
Daß nun Diemer noch lebt und auch
noch Turniere bestreitet, kann nicht bestritten werden, denn er hat erst
kürzlich an einem Turnier in Bühl teilgenommen. Er lebt übrigens, wie ich von
Herrn Köhler erfuhr, in einem Altersheim in Fußbach bei Gengenbach, das unweit
von Offenburg an der Kinzig liegt. Da nun Emil Josef Diemer am 15. Mai seinen
75. Geburtstag feiern wird, so hatte ich die Aufgabe übernommen, ihn dort zu
besuchen, um eine Laudatio für die "Rochade" schreiben zu können. Ich wollte diesen
Mann einmal persönlich kennenlernen, der nun immerhin schon ein
Dreivierteljahrhundert alt ist und doch vielleicht eines Tages früher von dieser
Welt gehen kann als ich noch Zeit haben würde, seine Bekanntschaft machen zu
können.
Ich nahm also die Gelegenheit, am Dienstag, dem 19. April, nach
Offenburg zu fahren, wo ich etwa drei Tage lang bleiben wollte. Unsere Begegnung
am Offenburger Hauptbahnhof hatten wir telefonisch verabredet. Es ist allerdings
eine amüsante Geschichte, wie ich dem Meister begegnet bin. Mein ICE-Zug von
Hagen ging etwa um 10 Uhr vormittags ab. lch hatte lediglich in Mannheim
umzusteigen, und war dann kurz nach l4.00 Uhr in Offenburg, aber weder auf dem
Bahnsteig noch im Bahnhof war jemand, der auf mich gewartet hatte, um mich
abzuholen. Ich sprach sogar einige ältere und invalid aussehende Herren
daraufhin an, ob Sie etwa Diemer hießen, was aber jedesmal mit einem höflichen,
aber entschiedenen Kopfschütteln verneint wurde. Unter diesen Umständen blieb
mir gar nichts anderes übrig, als die Suche nach Emil Josef Diemer aufzugeben.
Ich rief in der Gengenbacher Pension an, erfuhr aber lediglich, daß er
ausgegangen sei. Unter diesen Umständen nahm ich mir die Muße, im Bahnhofshotel
erst einmal ein Essen einzunehmen und machte mir bereits trübe Gedanken, ob ich
den Meister etwa falsch verstanden hatte, der mich möglicherweise in Gengenbach
und nicht in Offenburg erwarten würde. Da ich Emil Josef schon längst um diese
Zeit nicht mehr in Offenburg vermutete, selbst wenn dies als Treffpunkt gemeint
gewesen wäre, so fürchtete ich, die Begegnung in jedem Falle verfehlt zu haben
und begab mich resignierend zu den Omnibushaltestellen, von denen aus ich
zumindest einmal nach Gengenbach gelangen würde. Dort sah ich einen alten Herrn
mit langem weißen Barte, der etwa an das Aussehen erinnerte, wie ich mir
vielleicht einen alttestamentarischen Propheten vorstellen würde. Diesen Mann,
der eine hohe Statur hatte und an einem Stock ging, sprach ich an, wie ich auf
dem schnellsten Wege nach Gengenbach gelangen würde. Der Mann war von
ausgesuchter Höflichkeit und Gefälligkeit und ging sogar mit mir zu der
betreffenden Haltestelle, um mir die Fahrtzeiten zu erläutern, die ich ihm aber
vorlesen müsse, weil er selber kaum noch sehen könne. Übrigens kam der
freundliche alte Herr keine Sekunde lang auf den Gedanken, mich zu fragen, was
ich überhaupt in Gengenbach wolle, da er ebenfalls im Begriffe sei, sich mit
jemand zu treffen, der nach Gengenbach wolle.
Da der alte Mann schlecht sehen
konnte und außerdem ein auffälliges Abzeichen trug, so kalkulierte ich wie
Sherlock Holmes. Ich glaubte, Emil Josef Diemer inzwischen bereits ausreichend
erkannt zu haben, denn er war es tatsächlich, und das Indiz mit dem Abzeichen
gab mir bereits die nötige Sicherheit, daß ich mich in meiner Vermutung nicht
geirrt haben konnte. Ich brauchte ihn also bloß noch zu fragen, was er da für
ein rundes großes Abzeichen auf seiner Brust trüge. Es war eines von den neueren
großen weißen Schachabzeichen, wie ich wohl erkannt hatte und er mir mit den
Worten bestätigte: "Das ist ein Schachabzeichen!" Ich parierte diese Auskunft
mit den Worten: "Dann heißen Sie wohl Diemer, und Sie sind gerade der Mann, den
ich suche ". Emil Josef hatte durchaus ein Gespür für die Komik der Situation
und konnte sich eines Lächelns über dieses Zustandekommen der Begegnung nicht
enthalten, weshalb die Begleitumstände dieser Begegnung auch hier in der
"Rochade" ausführlich geschildert sein sollen.
Ich habe dann noch drei
Tage lang Gelegenheit gehabt, mich mit diesem eigentümlichen Mann zu
unterhalten, und es ging dabei nicht allein um Schach, obwohl Schach dem Meister
eine wichtige Erkenntnisquelle seines Lebens bedeutet, ja den Sinn des Lebens
überhaupt.
Was über des Meisters gewagte Prophetien berichtet wurde, beruht nicht
auf Gerüchten. Es entspricht allerdings der Wahrheit, daß Emil Josef Diemer sich
auf zahlenmäßiger Grundlage mit Zukunftsdeutungen befaßt, die er etwa nach dem
Vorbilde der hebräischen Kabbala vornimmt, wobei jedem Buchstaben des Alphabets
ein Zahlenwert in alphabetischer Reihenfolge entspricht und lediglich das Jot
ausgespart wird, "weil sonst die Berechnungen nicht stimmen würden", wie der
Meister meint. Als Erkenntnisquellen dienen ihm die Prophezeiungen des
Nostradamus, Bücher über Heilige sowie die Bibel. Vor allem das Neue Testament
mit der Offenbarung des Johannes in Lutherscher Übersetzung ist ihm das
wichtigste Buch, aus dem er seine Prophetien schöpft. Über die Einzelheiten
dieser teils wunderlichen, teils katastrophalen, apokalyptischen Prophezeiungen,
die nach Diemer sehr nahe bevorstehen, will ich mich hier nicht näher
verbreiten, weil sie dem Leser unverständlich und wirr erscheinen müssen. Sie
eignen sich auch deshalb nicht für eine Publikation, weil Diemer zwar alle
geschichtlichen Fakten genauestens kennt, ihnen aber von seiner
christlich-katholischen Erziehung her eine völlig andere Deutung gibt, als sie
die neuere weltliche Geschichtsschreibung für wahr halten will. Dies betrifft
u.a. auch seine Haltung zum Schicksale der emanzipierten Juden, die er entweder
als das Volk der Gottesmörder sieht oder deren grauenvolles Schicksal er mehr
als Gottes Strafe für den Abfall vom rechten Glauben verstanden wissen will. Ich
werde daher an dieser Stelle nicht auf das Geschichtsverständnis des Meisters
eingehen, weil er da oft zu gefährlichen Wertungen kommt, die der geltenden
Geschichtsschreibung entgegengesetzt sind und Zorn, Anfeindung oder Befremden
erregen könnten.
Da aber Emil Josef Diemer selbst sich nicht scheuen
würde, aller Welt zu verkünden, daß ihm wichtige und schicksalsschwere
Einsichten gegeben sind, so glaubte ich, das an dieser Stelle bestätigen zu
können.
Ferner ist er der festen Überzeugung, daß mit dem Tode nicht alles aus
sei. Er zeigte mir zu diesem Thema ein Schrifttum, das mit der Gralssekte zu tun
hat. Auch hat er zu dieser Thematik bereits Vorträge gehalten. Übrigens glaubt
er auch an die Seelenwanderung und ist der festen Überzeugung, daß er selbst
eine Reinkarnation des ungarischen Meisters Rudolf Charousek ist, den er sehr
bewundert. Allerdings konnte ich mit meiner profanen Skepsis seinem
Gedankengange nicht folgen, u. a. auch deshalb nicht, weil Diemer noch 102 Jahre
alt zu werden hofft, wie seine Berechnungen ergeben haben. Ich konnte hier schon
deshalb keine Parallele erblicken, weil Charousek bereits in jungen Jahren
gestorben ist.
Den "Golem" Meyrinks kannte Diemer auch sehr gut, u. a.
auch die Stellen, welche sich auf die Romanfigur des Innozenz Charousek
beziehen. Was dem Charousek sein Königsläufer-Gambit war, das ist dem Emil Josef
sein Blackmar-Diemer-Gambit. -"Wer sich in ein solches Gambit mit mir einläßt,
der hängt in der Luft, der tanzt nach Marionettenfäden, die ich zupfe!" lautet
die Äußerung Charouseks in jenem Romane Gustav Meyrinks.
Nun konnte es nicht
ausbleiben, daß die Gäste in jener Pension uns manchmal vielsagend ansahen, als
Emil Josef ununterbrochen auf mich einredete, manchmal im ruhig dozierenden Tone
eines Universitätsprofessors, manchmal aber auch mit beschwörend erhobenem Tone,
wenn er eine besondere Offenbarung an mich weitergegeben hatte, die ihm überaus
wichtig erschien. Ein Gast soll bereits die Frage gestellt haben, was wir für
seltsame Gäste wären. Ich kam jedoch wenig oder fast gar nicht zu Wort, weil dem
Meister seine Zeit viel zu kostbar war, um sie von mir zerreden zu lassen. Nun
mußte allerdings jeder unbefangene Zuhörer den Eindruck gewinnen, zwei Irre vor
sich zu haben, - den einen, der lauter Unsinn redet und den anderen, der sich
das wirre Zeug überhaupt noch geduldig anhört.
Dessen ist sich Emil
Josef Diemer durchaus bewußt. Er gestand mir selbst, daß man ihn wegen
Prophetenwahns in die Anstalt überführt hatte. Da er zahlreiche hochgestellte
Politiker wegen seiner Prophetien angeschrieben hatte und auch im persönlichen
Umgang seine Ansichten nicht verheimlichte, konnte es nicht ausbleiben, daß die
Behörden auf ihn aufmerksam wurden.
Als ich noch Lehrer war, habe ich
meine Schüler immer gelehrt, daß es Prophetenschicksal ist, verkannt, getötet
oder bestenfalls für wahnsinnig gehalten zu werden, weil kein Mensch geneigt
ist, sich Vorhaltungen über seinen Wandel machen zu lassen oder an
apokalyptische Gottesgerichte in den Tagen der Endzeit zu glauben.
Emil Josef
Diemer wäre im Mittelalter von der Inquisition zweifellos verbrannt worden, weil
er die Bibel, die er übrigens ehrfurchtsvoll immer "Die Heilige Schrift" nennt,
für den zauberischen Frevel der Zahlenmagie gebraucht oder mißbraucht habe, wie ihm
die Inquisitoren vorgeworfen hätten (Die kabbalistischen Zahlenrechnungen
können jedoch auch dem Evangelischen Johannes nicht fremd gewesen sein, weil er
von dem Tiere aus dem Abgrund spricht, dessen Zahl 666 sei. Man hat versucht,
diese Zahl auf Nero, Napoleon und Hitler anzuwenden. Die Ansichten waren
durchaus nicht einhellig. Auch Diemer verwirft sie und sieht im Antichristen
eine lebende Persönlichkeit der Jetztzeit.). Da das heute nicht mehr als
todeswürdiges Verbrechen geahndet werden kann, wird er folglich als irre
angesehen. Aber von seinem Standpunkte aus ist die Logik anders. Wir leben zwar
in einem christlichen Staate, aber die geltenden Ansichten in der modernen
Philosophie und den modernen Naturwissenschaften sind durchaus materialistisch,
agnostizistisch, um nicht zu sagen atheistisch. Wer etwas behauptet, ist die
Beweislast schuldig. Man darf nichts behaupten, was nicht zu beweisen ist oder
durch verstandesmäßige Gründe gestützt werden kann. Alte metaphysische
Behauptungen sind beweislastig, d. h. der Glaube an Gott und religiöse
Heilslehren können philosophisch und wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Der
philosophische Materialist sieht den Glauben als Aberglauben an. Heute dreht
sich wissenschaftliches Denken aber überhaupt nicht mehr darum, ob irgendetwas
in der Bibel geschrieben steht, wie es den Scholastikern noch so überaus wichtig
und maßgebend war. Selbst die moderne Theologie ist zutiefst ungläubig.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Glaube als Staatsreligion
propagiert wird und der Unglaube in allen wissenschaftlichen Disziplinen und
philosophischen Diskussionen stillschweigend anerkannt ist. Wenn man nun von der
umgekehrten Überzeugung ausgeht, daß die Bibel die alleinige Wahrheit enthält,
so kann man wohl zu solchen ungewöhnlichen Ansichten kommen, denen sich ja nicht
nur einzelne Personen, sondern ganze Sekten anschließen.
Emil Josef
Diemer verheimlicht es mithin durchaus nicht, daß er wegen Prophetenwahns in
eine Anstalt eingewiesen wurde und zieht im Gegenteil daraus den Schluß, daß er
als einziger Vernünftiger unter lauter Irren leben muß. Dem betreffenden
Psychiater, der über seinen "Prophetenwahn" zu befinden hatte, stellte er die
Frage, ob dieser überhaupt selber an Gott glaube, wie man es ja von einem guten
Bürger, der die geltende Staatsreligion anerkennt, zumal in Süddeutschland,
erwartet. Dem Psychiater war die Frage jedoch zu heikel, um sie direkt zu
beantworten. Dieser stemmte nur die Arme in die Seiten und schnauzte Emil Josef
verächtlich und zornig an: "Herr, was erlauben Sie sich? Ich bin Psychiater und
kein Theologe!", womit das Eingeständnis des Unglaubens gegeben war.
Emil Josef Diemer argumentiert nun mit seiner Logik, daß ein solcher
Mann, dessen vermeintliche höhere Bildung ein Hindernis darstellt, um selber an
Gott zu glauben, überhaupt nicht kompetent und berechtigt sei, über seinen
angeblichen Prophetenwahn zu befinden. Daß ein solcher Mann da überhaupt nicht
mitsprechen könne, das sei doch ganz logisch.
Da der Meister dieses
Bekenntnis mit dem Brustton der Überzeugung vertritt, so habe ich auch keinen
Grund gesehen, dies in dieser Betrachtung verheimlichen zu wollen. Ich will aber
noch einige Ansichten und Tatsachen festhalten, um deren Darstellung mich der
Meister ausdrücklich gebeten hat, damit sie den Lesern nicht vorenthalten
bleiben.
Emil Josef Diemer legt allergrößten Wert darauf, daß ich der
Schachwelt berichten soll, daß er der Erfinder des Ingo-Systems ist, was leider
nicht allgemein anerkannt wurde. Er hat auch Hößlinger aus Ingolstadt persönlich
gekannt und ihm seine Gedanken vermittelt.
Ferner hat er auch die Ursachen der
Schachblindheit erkannt und eine Methode gefunden, wie man diese durch
Biorhythmik einschränken bzw. beseitigen kann, um wieder zu besserer Form bzw.
zur Höchstform zu gelangen. Auch dies sollte ich in jedem Falle erwähnen. Die
Methode ist offenbar bereits anerkannt, denn ich hörte einmal, wie selbst ein so
skeptischer Mensch wie Otto Borik sie in einem Vortrage empfahl. Drittens meint
Emil Josef Diemer, daß seine eigene Erblindung ihn zu schärferem Denken und
geistigem Sehen geführt habe. Auch das bringt er mit Vorbildern in der
Seelenwanderung in Verbindung. Sein Denken kreist auch um Gestalten der
germanischen Mythologie, wenn er z.B. häufig auf die Sage hinweist, wie Loki dem
Hödur die Hand gelenkt habe, als der Pfeil das Auge des Lichtgottes Baldur traf.
Ähnlich aber, wie der verbrecherische Augenarzt Dr. Wassery in Meyrinks "Golem"
Inspektionen an gesunden Augen durchführte, wo grauer Star überhaupt nicht
vorlag, so erzählte mir der Meister, daß bei ihm auch eine schicksalhafte
Verwandtschaft zu dieser Romanfigur bestehe, weil bei ihm ebenfalls ein
Augenarzt auf grauen Star diagnostiziert habe, welcher die Schuld daran trüge,
daß er heute nahezu erblindet sei. Diemer ist auch ein Verehrer Paul Morphys und
würdigt Franz Gutmayer positiver als die anderen Meister das tun. Er verhandelt
sogar mit dem Schmaus-Verlag über den Nachdruck eines Gutmayer-Buches.
Ich habe
mit dem Meister noch etliche seiner Partien analysiert und auch mit ihm über
bekannte Meister und Schachereignisse gesprochen. Dabei mußte ich den Eindruck
gewinnen, daß er auch heute noch mit dem größten Scharfsinn analysiert und auch
ein photographisch treues Erinnerungsvermögen hat, wo diese und jene Züge in
seinen Abhandlungen stehen müssen und zu finden sind; wie er auch seine
kabbalistischen Zahlen in- und auswendig kennt. Einige Kombinationen, die wir
durchgingen, sind genial zu nennen. Nur einmal war ich mit einer Analyse nicht
einverstanden und suchte mit einem bestimmten Zuge zu beweisen, daß Schwarz sich
durchaus noch mit Sh6-f7 verteidigen konnte, während der Meister die schwarze
Stellung für total verloren hielt, denn sie müsse jeden Augenblick
zusammenbrechen. Ich will nicht verschweigen, daß ich bei den Analysen durchweg
die Oberhand behielt, aber ich konnte den Meister nicht überzeugen, weil er den
Ausgang der Analysen mehr auf sein Augenleiden zurückführte. Bei gesundem
Augenlicht würde er die Widerlegung schon gefunden haben, meinte er. Obwohl ich
namentlich auch in jüngeren Jahren viel Sinn und Begeisterungsfähigkeit für den
großen Opferstil a la Morphys im Sinne Gutmayers hatte, so ging es bei der
Analyse der bewußten Stellung doch um zwei verschiedene Spielauffassungen. Der
Meister war überzeugt, besser entwickelt zu sein, so daß sein Angriff schnell
durchdringen müsse. Ich suchte einen Stil im Sinne Laskers oder sogar
Steinitzens zu repräsentieren, der das Risiko einer vernachlässigten Entwicklung
zwar kennt, aber bei dem man sich mit allen Raffinessen verteidigt, um die
Ressourcen der schwachen Stellung zur Geltung zu bringen. Selbst vor
Tempoverlusten und verschrobenen Zügen schreckte Heroisch, der gelehrige
Schüler beider großen Vorbilder, nicht zurück. So verteidigte ich hartnäckig die
Konzeption Sh6-f7 und verurteilte Sh6-g8 als die Ursache des Verlustes, welchen
Zug Emil Josef nur mit der Frage: "Was sonst?" kommentiert hatte. Das
Bewußtsein, keine Schwächen in der Stellung zu haben und die Bauern des weißen
Zentrums blockieren und unter ständiger Kontrolle halten zu können, brachte mich
zu der Auffassung, daß die schwarze Stellung durchaus spielbar sein müsse, wenn
man nicht mit allen Wassern gewaschen ist und die Ressourcen der Stellung
auszunutzen versteht.
Ansonsten mußte ich ehrlich staunen, welche Kabinettstücke
glänzender Kombinationskunst dem Meister mit seinem Gambit gelungen waren. Hier
kam sein Scharfsinn eines ungewöhnlich genialen Menschen zur Geltung, wie man
ohne Übertreibung sagen darf. Er erzählte mir auch von Jahren, in denen er
mehrere gut besetzte Turniere gegen starke Gegnerschaft hintereinander gewonnen
hat. Sein Abschneiden in Brühl war allerdings nicht mehr besonders überragend,
aber auch dieses Nachlassen führt er auf sein Augenleiden zurück. Emil Josef
Diemer ist deshalb ein bemerkenswerter Schachmeister, weil er auch im höchsten
Alter noch jugendlich unternehmend spielt und eben Schiebepartien und
Salonremisen vermeiden will. Er ist als ehemaliger Buchhändler ein
ungemein belesener Mann und kennt daher auch die Schattenseiten des christlichen
Mittelalters und der Kirchengeschichte sehr genau, denn er hat gerade die Bücher
aufmerksam studiert, die auf dem "Index librorum prohibitorum" stehen. Seine
christliche Frömmigkeit führt ihn durchaus nicht dazu, solche Themen zu meiden
oder etwa nicht gekannt haben zu wollen.
Auch wenn er sich zu Begebenheiten der
Schachgeschichte äußert, muß man ohne weiteres den Eindruck eines belesenen und
durchaus vernünftigen Menschen von ihm gewinnen, zumal er seine Ansichten auch
im allgemeinen gewandt und in sprachlich-grammatisch richtiger Diktion vorträgt.
Nur eben bei den Offenbarungen komme ich als moderner Mensch des 20.
Jahrhunderts bei ihm nicht mehr mit, da wir als moderne Menschenkinder von
Skepsis und Zweifeln angekränkelt sind und eigentlich zutiefst ungläubig sind,
wie wir uns selber eingestehen müssen. Den Sozialismus, der auch ein Ismus der
Moderne ist, bezeichnete er im Sinne Churchills als die Summe von Haß, Neid und
Zorn. Nach Diemers Kabbala ist der Name eines Menschen nichts Zufälliges,
sondern er beschreibt sein Wesen. Den Namen Werner deutete er damit, daß darin
u.a. auch der Unglaube stecke. Als ich ihn auf die Nikolaiten in der Offenbarung
des Johannes hinwies, brachte er diese Sekte weniger mit der Fleischeslust und
Unzucht in Verbindung, die ihnen von rivalisierenden Sekten vorgeworfen wurden,
als vielmehr mit Sozialismus und kommunistischer Gütergemeinschaft. Dies ist
allerdings nichts Überraschendes, da die Christen der Urgemeinde in Erwartung
des bevorstehenden Weltgerichts das Prinzip des Liebeskommunismus und der
Gütergemeinschaft befolgten. Nun wird mein Name allerdings mit einem C
geschrieben, aber im römischen Alphabet wäre auch das K entbehrlich gewesen.
Wenigstens mit meinem Vornahmen dürfte Emil Josef Diemer etwas Richtiges
getroffen haben, da ich tatsächlich so skeptisch und ungläubig bin, daß ich von
meiner rationalistischen Einstellung her die Prophetien für etwas Suspektes
halte, das ich wenig ernst zu nehmen geneigt bin.
Wenn ich dennoch eine
Katastrophe in naher Zukunft nicht ausschließen will, so hat das bei mir
rationale Begründungen und orientiert sich nicht daran, ob das in heiligen
Büchern prophezeit worden ist. So z.B. hielt der englische Philosoph Bertrand
Russell den nahen Ausbruch zweier Atomkriege bis zum Jahre 2000 für durchaus
möglich und wahrscheinlich, wie er es im "Der Weg zum Weltstaat" prophezeit
hat. Er erwog drei Möglichkeiten, die partielle oder die totale Vernichtung der
Menschheit, vielleicht auch den Rückfall in die Barbarei für mehrere
Jahrhunderte, schließlich und endlich auch den Sieg der einen Weltmacht über die
andere, wobei er es für wünschenswerter erachtete, daß die USA siegen sollten,
da sie dem Individuum mehr persönliche Freiheit lassen würden als der totale
Staat mit restloser Gleichschaltung auf allen Gebieten. Er schrieb damals, man
könne in den USA Pragmatiker, Positivist, Relativist oder sonst etwas sein, - es
würde geduldet, während man in der UdSSR Gefahr liefe, auf geheimnisvolle Weise
zu verschwinden, wenn man sich als Biologe beispielsweise nicht der Meinung
Lysenkos anschließen wolle. Ich nehme an, daß Russell hier das stalinistische
Russland meint. Er schrieb nun, er könne zwar nicht wissen, welche seiner drei
Prophezeiungen verwirklicht werden, aber unmöglich könne der Zustand
gegenseitiger Beargwöhnung und gegenseitigem Mißtrauens noch lange andauern.
Eine der drei Möglichkeiten werde bis zum Jahre 2000 gewiß eintreffen, wobei
Europa im ersten atomaren Kriege mit Sicherheit vernichtet werden würde. Den
Meinungsumfragen nach glaubt heute jeder siebte Engländer an die baldige
Vernichtung Europas und auch der Britischen Inseln. Falls es noch ganz bald
danach zu einem zweiten Atomkriege kommen würde, so wird entweder totale
Vernichtung sein, oder die siegende Großmacht wird das Waffenmonopol haben und
für einen dauernden Frieden sorgen.
Wie gesagt ist dies eine rein
rationalistische Überlegung, die überhaupt nichts mit biblischen Prophetien zu
tun hat. Eine solche Abwägung der Möglichkeiten kann ich für akzeptabel halten,
weil sie rein logisch begründet ist.
Nicht aber will es mir in den Kopf, daß
diese und jene Ereignisse Zeichen der Zeit sein sollen, weil wir bereits in der
Endzeit stünden und daß diese und jene Katastrophen notwendig und unvermeidlich
geschehen müssen, weil alles bereits prädestiniert und im Buche der Bücher
bereits festgehalten worden sei.
Aber ebenso wie heute unsere modernen
Naturwissenschaften ohne Zahlen und Formeln nicht zu denken sind, begründet nun
auch der Seher Emil Josef Diemer alles zahlenmäßig. Wir Skeptiker finden, daß
man mit Zahlen alles beweisen kann und daß Papier geduldig ist. Ich sage das
hier, obwohl ich selbst eine große Verehrung für die Mathematik habe. Nur
befremdet es uns moderne Menschen, die Mathematik und die Zahlen auf rein
labormäßige und spekulative Dinge anwenden zu wollen. Immerhin hatten selbst
die Griechen als scharfsinnige Denker und kluge Leute einen starken Hang zur
Zahlenmagie, wie es sich in der Schule des Pythagoras ausdrückt. Den Zahlen
wurden gewisse Bedeutungen zugeschrieben.
Auch Goethe war von magischen
Vorstellungen nicht frei. Selbst Newton, der Begründer der Himmelsmechanik, war
religiöser und mystischer veranlagt als man heute zugeben will. Dies alles muß
ich schonend mit erwägen, wenn man die Berechnungen Diemers nicht als
unverständlichen Unsinn bezeichnen will, als den sie uns erscheinen müssen.
Sonst hätte ich alles in dem einzigen Satz ausdrücken müssen: "Wie kann ein
Mensch nur solche ungeheuerlichen Dinge verbreiten und
selbst noch daran glauben?" Da aber auch seine weltanschaulichen und politischen
Wertungen denen der modernen, freigeistigeren Menschen diametral entgegengesetzt
sind, so ist mir aus der Begegnung mit dem Schachmeister Diemer klarer und
verständlicher geworden, weshalb uns Nordlichtern oft das Denken der
süddeutschen Menschen als ein Rätsel erscheint und weshalb wir oft nicht mit
ihnen auf den gleichen Nenner kommen. Man wird davon ausgehen müssen, daß sie
manche Thesen, die Streitpunkte in der öffentlichen Diskussion sind, wenigstens
subjektiv ehrlich glauben. Denn Emil Josef Diemer verkündet seine Prognosen
nicht, um sich interessant zu machen, er ist zumindest persönlich felsenfest von
deren Richtigkeit überzeugt. Das ist es, was ich vom Phänomen Diemer sagen kann,
wenn ich der ganzen Sache eine einigermaßen positive Deutung geben will. Dies
muß ich ja wohl tun, denn sonst hätte ich ihn nicht in Gengenbach zu besuchen
brauchen. Es war ja der Zweck meiner Reise, eine Würdigung zu schreiben. Er war
übrigens froh und dankbar, in mir einen Zuhörer gefunden zu haben, dem er seine
Theorien und Ahnungen entwickeln konnte. Einmal haben wir auch eine kurze
Wanderung zum Standbild einer Madonna gemacht. Übrigens ist sich Emil Josef
Diemer über die Gegensätze des alten Glaubens und der modernen Philosophie sehr
wohl im klaren, denn er kennt natürlich auch Baruch (Genedikt) Spinoza.
Natürlich wertet er auch ihn anders, als ich es erwartet hatte. Keinesfalls
bewundert er das logische und kristallklare Denken des großen Denkers. Mit der
Einführung des rationalistischen Denkens in die Philosophie und Theologie wurde
bei Spinoza natürlich der Glaube der Väter verraten, so daß die schauerliche
vielfache Verfluchung Spinozas dem Meister Emil Josef Diemer als wohl
begreiflich und gerechtfertigt erscheint. Er bat mich sogar, ihm den Wortlaut
des Fluches aus dem Buche "Das Buch der Ketzer" des Schweizer Theologen Walter
Nigg bzw. das ganze Buch zu schicken.
Ich nahm Abschied von einem
ungewöhnlichen Menschen, den ich wohl so bald nicht wiedersehen werde. Aber
warum soll es nicht der Fall sein, da Diemer noch 102 Jahre zu werden hofft?
Hoffentlich halte ich es noch lange genug aus, um ihm vielleicht wieder zu
begegnen. Diemer begleitete mich noch bis zum Bahnhof nach Offenburg, als ich am
Freitagmorgen in aller Frühe schon gegen sieben Uhr morgens von Gengenbach
Abschied nahm.
Werner Nicolai
(offensichtliche Orthographiefehler korrigiert, Grammatik und Stilistik wurden aus
Urheberrechtsgründen belassen, zwei Bilder beigefügt - Anm. d. A.)
Ergänzung d. A.:
Die korrekte Schreibweise von Diemers Namen ist Emil Joseph Diemer - kein "f" im Mittelnamen
(Auskunft des Standesamtes Radolfzell)!