Copyright ©

Alle Rechte vorbehalten. Rev 1.0 - 04.11.2001
Rev 1.1 - 16.11.2002
[mailto:] caissist ad gmx.net        disclaimer



Das rätselhafte Phänomen
Emil Josef Diemer

Werner Nicolai berichtet über seinen Besuch E.J. Diemers in Fußbach

zur Hauptseite



In den fünfziger Jahren trat der bekannte Schachmeister Emil Josef Diemer mit seinem berühmten Blackmar-Gambit hervor. Er wendete dieses Gambit grundsätzlich in jeder Partie als Anziehender an, wobei es ihm gelang, auch gegen ernstere Gegner beachtliche Erfolge zu erzielen. Es ging ihm um kombinationsreiche Wendungen und rücksichtslosen Königsangriff, weshalb er sich auch unter dem Kopfschütteln der Kenner und solcher, die sich für Kenner hielten, zu der Maxime verstieg, vom ersten Zug an auf Matt zu spielen. Damit steht er natürlich im Gegensatz zu den Einsichten der Groß- und Weltmeister, welche das von Steinitz und Lasker begründete und anerkannte Prinzip der "Balance of Position" und der damit verbundenen Remisbreite kennen. Allein, dies störte Emil Josef Diemer nicht, dem es ja gerade darum zu tun war, dem Remis unter allen Umständen aus dem Wege zu gehen und einen Kampf auf Biegen und Brechen anzustreben. Seine Forschungen und Erfahrungen mit diesem Gambit stellte er in einem Buche zusammen, das seinerzeit im ten-Have-Verlag zu Amsterdam herauskam und noch eine Ergänzungsausgabe erfahren sollte. Meines Wissens kam eine Zweitauflage heraus, und es soll eine dritte noch kurz bevorstehen.

Ich selbst besitze die erste Auflage aus dem ten-Have-Verlag mit dem Diagramm auf der Titelseite der Broschüre sowie eine Zweitauflage mit grünem Umschlag aus dem Rudi-Schmaus-Verlag, eine orangefarbene Broschüre als Band 2 von Alfred Freidl und eine rötlich-violette Broschüre von Georg Studier aus dem gleichen Verlag, die den dritten Band darstellt. Studier ist einer der begabtesten Schüler Diemers. Außerdem besitze ich noch eine blaue Broschüre "Supertaktik des modernen Gambitspiels" von Gerhart Gunderam, mit welchem Diemer zahllose Fernpartien gespielt hat, um die Güte "seines Gambits" zu erhärten. Er steht zwar auch heute noch in regem Briefwechsel mit Gunderam, zerstritt sich aber auch mit diesem, weil Gunderam das Gambit für derartig inkorrekt hält, daß er beinahe so gut wie jede Verteidigung für ausreichend hält, das Gambit zu widerlegen. Es muß leider gesagt werden, daß das Gunderamsche Buch, selbst wenn der Autor im Grunde recht hätte, schon darum wenig seriös ist, weil es [Werner Nicolai 1981]
(Werner Nicolai 1981)
zahlreiche Druckfehler enthält, und weil dem Verfasser einige eklatante analytische Irrtümer unterliefen, die den Befürwortern des Blackmar-Diemer-Gambits Veranlassung gaben, auf diesen Fehlbeurteilungen herzumzuhacken. Auch ist das Buch in einem herausfordernden, wenig objektiven Stile geschrieben. Hinter jeder Analyse, die die Inkorrektheit bzw. den Verlust von Weiß ausführen soll, steht bei Gunderam ein provozierendes "Aus!". Wer aber etwas beweisen will, sollte darauf achten, daß ihm selbst keine Schnitzer unterlaufen. Leider hat Gunderam einfache elementare Mattführungen übersehen, die er an anderer Stelle als bekannt voraussetzt. Oder er führt eine Analyse mit einer Figur weiter, die längst geschlagen wurde. Manchmal gibt er sich auch mit bloßen Schätzungen zufrieden, daß etwa der Besitz von drei oder vier Bauen die Mehrfigur des Gegners ausgleichen sollten, so daß er den Nachweis einer strengen Analyse schuldig bleibt. Diemer beschuldigt Gunderam vor allem der Inkorrektheit, solche Partien als gewonnen bezeichnet zu haben, die gar nicht zu Ende gespielt worden seien bzw. die Niederlagen verschwiegen zu haben. Eine zweite Berichtigung und Verbesserung des Gunderamschen Buches erscheint als dringend notwendig, ehe man dieses überhaupt als ein einigermaßen seriöses Buch bezeichnen könnte. Auch ein vorurteilsfreierer und objektiverer Stil wäre erwünscht. Diemer ist auch der Ansicht, daß die Partien des zweifellos genialen, 1981 verstorbenen Franzosen David Gedult von Gunderam nicht kritisch genug analysiert wurden, weil da auch noch einige Unzulänglichkeiten nachzuweisen wären.

Emil Josef Diemer begründete in den fünfziger und sechziger Jahren seine sogenannte Blackmar-Gemeinde. Er schrieb Publikationen in Gestalt von Heften, deren Summe einen umfangreichen, dicken Band ergeben würden, die er an alle Interessenten verschickte, die aber letzten Endes doch ein Verlustgeschäft für ihn waren, da er das Geld nicht wieder hereinbekam, das ihn die Produktion seiner Veröffentlichungen kostete. Seine Blackmar-Gemeinde blieb nicht nur regional begrenzt, sondern sie ging um die ganze Welt. Selbst in Amerika gab es eine Zeitung, "Die Blackmar-Gemeinde ", welche von Nikolaus Kampars im Staate Wisconsin geleitet wurde.
In Hastings und Eastboume begegnete mir ein Germanist Dr. Richards, welcher ein polnisch-jüdischer Emigrant und ein begeisterter Anhänger der Blackmar-Gemeinde war.
Ich persönlich bewunderte einen Mann wie Diemer, der jedenfalls jederzeit bereit war, das Risiko seines Gambits auf sich zu nehmen und damit dem Gegner bereits eine halbe Vorgabe gewährte, da er sicherlich nichts anderes spielen würde, so daß sich praktisch jeder Gegner auf ihn vorbereiten konnte. Unter diesem Gesichtspunkt mußten seine Erfolge doppelt erstaunlich sein und gewürdigt werden.
[Diemer 1983]
(E. J. Diemer 1983 ?)

Ich war damals daran interessiert, ihm eine Simultanveranstaltung in Castrop-Rauxel zu vermitteln, was aber an seinen Forderungen und an der Uninteressiertheit der Vereinskollegen von Castrop-Rauxel Nord scheiterte. Ich wollte den gewaltigen Kombinationskünstler einmal aus nächster Nähe erleben, der die verblüffendsten Kombinationen hervorzaubert wie ein Variete-Magier das Kaninchen aus dem Zylinder. Da aber meine Vermittlung scheiterte, blieb mir der große Meister nur immer vom Hörensagen bekannt.
Es wurde auch viel von ihm gesprochen, und zwar durchaus nicht immer Vorteilhaftes. Da erfuhr man denn seltsame Dinge, die allerdings eher wie stark übertriebene Gerüchte anmuteten. In England erfuhr ich von eben demselben begeisterten Diemer-Enthusiasten Dr. Richards, daß Diemer ihm wunderliche Prophezeiungen gemacht habe und u. a. ihn selbst dringlich davor gewarnt habe, überhaupt sein Domizil nach England zu verlegen, weil die Britischen Inseln in naher Zukunft durch eine gewaltige Katastrophe im Meere versinken würden. Emil Josef Diemer wurde auch eine Zeitlang totgesagt. Dann hieß es wieder, er lebe noch und spiele sogar wieder in alter Frische Turniere mit gutem Erfolge wie einst im Mai.

Daß nun Diemer noch lebt und auch noch Turniere bestreitet, kann nicht bestritten werden, denn er hat erst kürzlich an einem Turnier in Bühl teilgenommen. Er lebt übrigens, wie ich von Herrn Köhler erfuhr, in einem Altersheim in Fußbach bei Gengenbach, das unweit von Offenburg an der Kinzig liegt. Da nun Emil Josef Diemer am 15. Mai seinen 75. Geburtstag feiern wird, so hatte ich die Aufgabe übernommen, ihn dort zu besuchen, um eine Laudatio für die "Rochade" schreiben zu können. Ich wollte diesen Mann einmal persönlich kennenlernen, der nun immerhin schon ein Dreivierteljahrhundert alt ist und doch vielleicht eines Tages früher von dieser Welt gehen kann als ich noch Zeit haben würde, seine Bekanntschaft machen zu können.
Ich nahm also die Gelegenheit, am Dienstag, dem 19. April, nach Offenburg zu fahren, wo ich etwa drei Tage lang bleiben wollte. Unsere Begegnung am Offenburger Hauptbahnhof hatten wir telefonisch verabredet. Es ist allerdings eine amüsante Geschichte, wie ich dem Meister begegnet bin. Mein ICE-Zug von Hagen ging etwa um 10 Uhr vormittags ab. lch hatte lediglich in Mannheim umzusteigen, und war dann kurz nach l4.00 Uhr in Offenburg, aber weder auf dem Bahnsteig noch im Bahnhof war jemand, der auf mich gewartet hatte, um mich abzuholen. Ich sprach sogar einige ältere und invalid aussehende Herren daraufhin an, ob Sie etwa Diemer hießen, was aber jedesmal mit einem höflichen, aber entschiedenen Kopfschütteln verneint wurde. Unter diesen Umständen blieb mir gar nichts anderes übrig, als die Suche nach Emil Josef Diemer aufzugeben. Ich rief in der Gengenbacher Pension an, erfuhr aber lediglich, daß er ausgegangen sei. Unter diesen Umständen nahm ich mir die Muße, im Bahnhofshotel erst einmal ein Essen einzunehmen und machte mir bereits trübe Gedanken, ob ich den Meister etwa falsch verstanden hatte, der mich möglicherweise in Gengenbach und nicht in Offenburg erwarten würde. Da ich Emil Josef schon längst um diese Zeit nicht mehr in Offenburg vermutete, selbst wenn dies als Treffpunkt gemeint gewesen wäre, so fürchtete ich, die Begegnung in jedem Falle verfehlt zu haben und begab mich resignierend zu den Omnibushaltestellen, von denen aus ich zumindest einmal nach Gengenbach gelangen würde. Dort sah ich einen alten Herrn mit langem weißen Barte, der etwa an das Aussehen erinnerte, wie ich mir vielleicht einen alttestamentarischen Propheten vorstellen würde. Diesen Mann, der eine hohe Statur hatte und an einem Stock ging, sprach ich an, wie ich auf dem schnellsten Wege nach Gengenbach gelangen würde. Der Mann war von ausgesuchter Höflichkeit und Gefälligkeit und ging sogar mit mir zu der betreffenden Haltestelle, um mir die Fahrtzeiten zu erläutern, die ich ihm aber vorlesen müsse, weil er selber kaum noch sehen könne. Übrigens kam der freundliche alte Herr keine Sekunde lang auf den Gedanken, mich zu fragen, was ich überhaupt in Gengenbach wolle, da er ebenfalls im Begriffe sei, sich mit jemand zu treffen, der nach Gengenbach wolle.
Da der alte Mann schlecht sehen konnte und außerdem ein auffälliges Abzeichen trug, so kalkulierte ich wie Sherlock Holmes. Ich glaubte, Emil Josef Diemer inzwischen bereits ausreichend erkannt zu haben, denn er war es tatsächlich, und das Indiz mit dem Abzeichen gab mir bereits die nötige Sicherheit, daß ich mich in meiner Vermutung nicht geirrt haben konnte. Ich brauchte ihn also bloß noch zu fragen, was er da für ein rundes großes Abzeichen auf seiner Brust trüge. Es war eines von den neueren großen weißen Schachabzeichen, wie ich wohl erkannt hatte und er mir mit den Worten bestätigte: "Das ist ein Schachabzeichen!" Ich parierte diese Auskunft mit den Worten: "Dann heißen Sie wohl Diemer, und Sie sind gerade der Mann, den ich suche ". Emil Josef hatte durchaus ein Gespür für die Komik der Situation und konnte sich eines Lächelns über dieses Zustandekommen der Begegnung nicht enthalten, weshalb die Begleitumstände dieser Begegnung auch hier in der "Rochade" ausführlich geschildert sein sollen.

Ich habe dann noch drei Tage lang Gelegenheit gehabt, mich mit diesem eigentümlichen Mann zu unterhalten, und es ging dabei nicht allein um Schach, obwohl Schach dem Meister eine wichtige Erkenntnisquelle seines Lebens bedeutet, ja den Sinn des Lebens überhaupt.
Was über des Meisters gewagte Prophetien berichtet wurde, beruht nicht auf Gerüchten. Es entspricht allerdings der Wahrheit, daß Emil Josef Diemer sich auf zahlenmäßiger Grundlage mit Zukunftsdeutungen befaßt, die er etwa nach dem Vorbilde der hebräischen Kabbala vornimmt, wobei jedem Buchstaben des Alphabets ein Zahlenwert in alphabetischer Reihenfolge entspricht und lediglich das Jot ausgespart wird, "weil sonst die Berechnungen nicht stimmen würden", wie der Meister meint. Als Erkenntnisquellen dienen ihm die Prophezeiungen des Nostradamus, Bücher über Heilige sowie die Bibel. Vor allem das Neue Testament mit der Offenbarung des Johannes in Lutherscher Übersetzung ist ihm das wichtigste Buch, aus dem er seine Prophetien schöpft. Über die Einzelheiten dieser teils wunderlichen, teils katastrophalen, apokalyptischen Prophezeiungen, die nach Diemer sehr nahe bevorstehen, will ich mich hier nicht näher verbreiten, weil sie dem Leser unverständlich und wirr erscheinen müssen. Sie eignen sich auch deshalb nicht für eine Publikation, weil Diemer zwar alle geschichtlichen Fakten genauestens kennt, ihnen aber von seiner christlich-katholischen Erziehung her eine völlig andere Deutung gibt, als sie die neuere weltliche Geschichtsschreibung für wahr halten will. Dies betrifft u.a. auch seine Haltung zum Schicksale der emanzipierten Juden, die er entweder als das Volk der Gottesmörder sieht oder deren grauenvolles Schicksal er mehr als Gottes Strafe für den Abfall vom rechten Glauben verstanden wissen will. Ich werde daher an dieser Stelle nicht auf das Geschichtsverständnis des Meisters eingehen, weil er da oft zu gefährlichen Wertungen kommt, die der geltenden Geschichtsschreibung entgegengesetzt sind und Zorn, Anfeindung oder Befremden erregen könnten.
Da aber Emil Josef Diemer selbst sich nicht scheuen würde, aller Welt zu verkünden, daß ihm wichtige und schicksalsschwere Einsichten gegeben sind, so glaubte ich, das an dieser Stelle bestätigen zu können.
Ferner ist er der festen Überzeugung, daß mit dem Tode nicht alles aus sei. Er zeigte mir zu diesem Thema ein Schrifttum, das mit der Gralssekte zu tun hat. Auch hat er zu dieser Thematik bereits Vorträge gehalten. Übrigens glaubt er auch an die Seelenwanderung und ist der festen Überzeugung, daß er selbst eine Reinkarnation des ungarischen Meisters Rudolf Charousek ist, den er sehr bewundert. Allerdings konnte ich mit meiner profanen Skepsis seinem Gedankengange nicht folgen, u. a. auch deshalb nicht, weil Diemer noch 102 Jahre alt zu werden hofft, wie seine Berechnungen ergeben haben. Ich konnte hier schon deshalb keine Parallele erblicken, weil Charousek bereits in jungen Jahren gestorben ist.

Den "Golem" Meyrinks kannte Diemer auch sehr gut, u. a. auch die Stellen, welche sich auf die Romanfigur des Innozenz Charousek beziehen. Was dem Charousek sein Königsläufer-Gambit war, das ist dem Emil Josef sein Blackmar-Diemer-Gambit. -"Wer sich in ein solches Gambit mit mir einläßt, der hängt in der Luft, der tanzt nach Marionettenfäden, die ich zupfe!" lautet die Äußerung Charouseks in jenem Romane Gustav Meyrinks.
Nun konnte es nicht ausbleiben, daß die Gäste in jener Pension uns manchmal vielsagend ansahen, als Emil Josef ununterbrochen auf mich einredete, manchmal im ruhig dozierenden Tone eines Universitätsprofessors, manchmal aber auch mit beschwörend erhobenem Tone, wenn er eine besondere Offenbarung an mich weitergegeben hatte, die ihm überaus wichtig erschien. Ein Gast soll bereits die Frage gestellt haben, was wir für seltsame Gäste wären. Ich kam jedoch wenig oder fast gar nicht zu Wort, weil dem Meister seine Zeit viel zu kostbar war, um sie von mir zerreden zu lassen. Nun mußte allerdings jeder unbefangene Zuhörer den Eindruck gewinnen, zwei Irre vor sich zu haben, - den einen, der lauter Unsinn redet und den anderen, der sich das wirre Zeug überhaupt noch geduldig anhört.

Dessen ist sich Emil Josef Diemer durchaus bewußt. Er gestand mir selbst, daß man ihn wegen Prophetenwahns in die Anstalt überführt hatte. Da er zahlreiche hochgestellte Politiker wegen seiner Prophetien angeschrieben hatte und auch im persönlichen Umgang seine Ansichten nicht verheimlichte, konnte es nicht ausbleiben, daß die Behörden auf ihn aufmerksam wurden.

Als ich noch Lehrer war, habe ich meine Schüler immer gelehrt, daß es Prophetenschicksal ist, verkannt, getötet oder bestenfalls für wahnsinnig gehalten zu werden, weil kein Mensch geneigt ist, sich Vorhaltungen über seinen Wandel machen zu lassen oder an apokalyptische Gottesgerichte in den Tagen der Endzeit zu glauben.
Emil Josef Diemer wäre im Mittelalter von der Inquisition zweifellos verbrannt worden, weil er die Bibel, die er übrigens ehrfurchtsvoll immer "Die Heilige Schrift" nennt, für den zauberischen Frevel der Zahlenmagie gebraucht oder mißbraucht habe, wie ihm die Inquisitoren vorgeworfen hätten (Die kabbalistischen Zahlenrechnungen können jedoch auch dem Evangelischen Johannes nicht fremd gewesen sein, weil er von dem Tiere aus dem Abgrund spricht, dessen Zahl 666 sei. Man hat versucht, diese Zahl auf Nero, Napoleon und Hitler anzuwenden. Die Ansichten waren durchaus nicht einhellig. Auch Diemer verwirft sie und sieht im Antichristen eine lebende Persönlichkeit der Jetztzeit.). Da das heute nicht mehr als todeswürdiges Verbrechen geahndet werden kann, wird er folglich als irre angesehen. Aber von seinem Standpunkte aus ist die Logik anders. Wir leben zwar in einem christlichen Staate, aber die geltenden Ansichten in der modernen Philosophie und den modernen Naturwissenschaften sind durchaus materialistisch, agnostizistisch, um nicht zu sagen atheistisch. Wer etwas behauptet, ist die Beweislast schuldig. Man darf nichts behaupten, was nicht zu beweisen ist oder durch verstandesmäßige Gründe gestützt werden kann. Alte metaphysische Behauptungen sind beweislastig, d. h. der Glaube an Gott und religiöse Heilslehren können philosophisch und wissenschaftlich nicht bewiesen werden. Der philosophische Materialist sieht den Glauben als Aberglauben an. Heute dreht sich wissenschaftliches Denken aber überhaupt nicht mehr darum, ob irgendetwas in der Bibel geschrieben steht, wie es den Scholastikern noch so überaus wichtig und maßgebend war. Selbst die moderne Theologie ist zutiefst ungläubig.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Glaube als Staatsreligion propagiert wird und der Unglaube in allen wissenschaftlichen Disziplinen und philosophischen Diskussionen stillschweigend anerkannt ist. Wenn man nun von der umgekehrten Überzeugung ausgeht, daß die Bibel die alleinige Wahrheit enthält, so kann man wohl zu solchen ungewöhnlichen Ansichten kommen, denen sich ja nicht nur einzelne Personen, sondern ganze Sekten anschließen.

Emil Josef Diemer verheimlicht es mithin durchaus nicht, daß er wegen Prophetenwahns in eine Anstalt eingewiesen wurde und zieht im Gegenteil daraus den Schluß, daß er als einziger Vernünftiger unter lauter Irren leben muß. Dem betreffenden Psychiater, der über seinen "Prophetenwahn" zu befinden hatte, stellte er die Frage, ob dieser überhaupt selber an Gott glaube, wie man es ja von einem guten Bürger, der die geltende Staatsreligion anerkennt, zumal in Süddeutschland, erwartet. Dem Psychiater war die Frage jedoch zu heikel, um sie direkt zu beantworten. Dieser stemmte nur die Arme in die Seiten und schnauzte Emil Josef verächtlich und zornig an: "Herr, was erlauben Sie sich? Ich bin Psychiater und kein Theologe!", womit das Eingeständnis des Unglaubens gegeben war.

Emil Josef Diemer argumentiert nun mit seiner Logik, daß ein solcher Mann, dessen vermeintliche höhere Bildung ein Hindernis darstellt, um selber an Gott zu glauben, überhaupt nicht kompetent und berechtigt sei, über seinen angeblichen Prophetenwahn zu befinden. Daß ein solcher Mann da überhaupt nicht mitsprechen könne, das sei doch ganz logisch.

Da der Meister dieses Bekenntnis mit dem Brustton der Überzeugung vertritt, so habe ich auch keinen Grund gesehen, dies in dieser Betrachtung verheimlichen zu wollen. Ich will aber noch einige Ansichten und Tatsachen festhalten, um deren Darstellung mich der Meister ausdrücklich gebeten hat, damit sie den Lesern nicht vorenthalten bleiben.

Emil Josef Diemer legt allergrößten Wert darauf, daß ich der Schachwelt berichten soll, daß er der Erfinder des Ingo-Systems ist, was leider nicht allgemein anerkannt wurde. Er hat auch Hößlinger aus Ingolstadt persönlich gekannt und ihm seine Gedanken vermittelt.
Ferner hat er auch die Ursachen der Schachblindheit erkannt und eine Methode gefunden, wie man diese durch Biorhythmik einschränken bzw. beseitigen kann, um wieder zu besserer Form bzw. zur Höchstform zu gelangen. Auch dies sollte ich in jedem Falle erwähnen. Die Methode ist offenbar bereits anerkannt, denn ich hörte einmal, wie selbst ein so skeptischer Mensch wie Otto Borik sie in einem Vortrage empfahl. Drittens meint Emil Josef Diemer, daß seine eigene Erblindung ihn zu schärferem Denken und geistigem Sehen geführt habe. Auch das bringt er mit Vorbildern in der Seelenwanderung in Verbindung. Sein Denken kreist auch um Gestalten der germanischen Mythologie, wenn er z.B. häufig auf die Sage hinweist, wie Loki dem Hödur die Hand gelenkt habe, als der Pfeil das Auge des Lichtgottes Baldur traf. Ähnlich aber, wie der verbrecherische Augenarzt Dr. Wassery in Meyrinks "Golem" Inspektionen an gesunden Augen durchführte, wo grauer Star überhaupt nicht vorlag, so erzählte mir der Meister, daß bei ihm auch eine schicksalhafte Verwandtschaft zu dieser Romanfigur bestehe, weil bei ihm ebenfalls ein Augenarzt auf grauen Star diagnostiziert habe, welcher die Schuld daran trüge, daß er heute nahezu erblindet sei. Diemer ist auch ein Verehrer Paul Morphys und würdigt Franz Gutmayer positiver als die anderen Meister das tun. Er verhandelt sogar mit dem Schmaus-Verlag über den Nachdruck eines Gutmayer-Buches.
Ich habe mit dem Meister noch etliche seiner Partien analysiert und auch mit ihm über bekannte Meister und Schachereignisse gesprochen. Dabei mußte ich den Eindruck gewinnen, daß er auch heute noch mit dem größten Scharfsinn analysiert und auch ein photographisch treues Erinnerungsvermögen hat, wo diese und jene Züge in seinen Abhandlungen stehen müssen und zu finden sind; wie er auch seine kabbalistischen Zahlen in- und auswendig kennt. Einige Kombinationen, die wir durchgingen, sind genial zu nennen. Nur einmal war ich mit einer Analyse nicht einverstanden und suchte mit einem bestimmten Zuge zu beweisen, daß Schwarz sich durchaus noch mit Sh6-f7 verteidigen konnte, während der Meister die schwarze Stellung für total verloren hielt, denn sie müsse jeden Augenblick zusammenbrechen. Ich will nicht verschweigen, daß ich bei den Analysen durchweg die Oberhand behielt, aber ich konnte den Meister nicht überzeugen, weil er den Ausgang der Analysen mehr auf sein Augenleiden zurückführte. Bei gesundem Augenlicht würde er die Widerlegung schon gefunden haben, meinte er. Obwohl ich namentlich auch in jüngeren Jahren viel Sinn und Begeisterungsfähigkeit für den großen Opferstil a la Morphys im Sinne Gutmayers hatte, so ging es bei der Analyse der bewußten Stellung doch um zwei verschiedene Spielauffassungen. Der Meister war überzeugt, besser entwickelt zu sein, so daß sein Angriff schnell durchdringen müsse. Ich suchte einen Stil im Sinne Laskers oder sogar Steinitzens zu repräsentieren, der das Risiko einer vernachlässigten Entwicklung zwar kennt, aber bei dem man sich mit allen Raffinessen verteidigt, um die Ressourcen der schwachen Stellung zur Geltung zu bringen. Selbst vor Tempoverlusten und verschrobenen Zügen schreckte Heroisch, der gelehrige Schüler beider großen Vorbilder, nicht zurück. So verteidigte ich hartnäckig die Konzeption Sh6-f7 und verurteilte Sh6-g8 als die Ursache des Verlustes, welchen Zug Emil Josef nur mit der Frage: "Was sonst?" kommentiert hatte. Das Bewußtsein, keine Schwächen in der Stellung zu haben und die Bauern des weißen Zentrums blockieren und unter ständiger Kontrolle halten zu können, brachte mich zu der Auffassung, daß die schwarze Stellung durchaus spielbar sein müsse, wenn man nicht mit allen Wassern gewaschen ist und die Ressourcen der Stellung auszunutzen versteht.
Ansonsten mußte ich ehrlich staunen, welche Kabinettstücke glänzender Kombinationskunst dem Meister mit seinem Gambit gelungen waren. Hier kam sein Scharfsinn eines ungewöhnlich genialen Menschen zur Geltung, wie man ohne Übertreibung sagen darf. Er erzählte mir auch von Jahren, in denen er mehrere gut besetzte Turniere gegen starke Gegnerschaft hintereinander gewonnen hat. Sein Abschneiden in Brühl war allerdings nicht mehr besonders überragend, aber auch dieses Nachlassen führt er auf sein Augenleiden zurück. Emil Josef Diemer ist deshalb ein bemerkenswerter Schachmeister, weil er auch im höchsten Alter noch jugendlich unternehmend spielt und eben Schiebepartien und Salonremisen vermeiden will. Er ist als ehemaliger Buchhändler ein ungemein belesener Mann und kennt daher auch die Schattenseiten des christlichen Mittelalters und der Kirchengeschichte sehr genau, denn er hat gerade die Bücher aufmerksam studiert, die auf dem "Index librorum prohibitorum" stehen. Seine christliche Frömmigkeit führt ihn durchaus nicht dazu, solche Themen zu meiden oder etwa nicht gekannt haben zu wollen.
Auch wenn er sich zu Begebenheiten der Schachgeschichte äußert, muß man ohne weiteres den Eindruck eines belesenen und durchaus vernünftigen Menschen von ihm gewinnen, zumal er seine Ansichten auch im allgemeinen gewandt und in sprachlich-grammatisch richtiger Diktion vorträgt.

Nur eben bei den Offenbarungen komme ich als moderner Mensch des 20. Jahrhunderts bei ihm nicht mehr mit, da wir als moderne Menschenkinder von Skepsis und Zweifeln angekränkelt sind und eigentlich zutiefst ungläubig sind, wie wir uns selber eingestehen müssen. Den Sozialismus, der auch ein Ismus der Moderne ist, bezeichnete er im Sinne Churchills als die Summe von Haß, Neid und Zorn. Nach Diemers Kabbala ist der Name eines Menschen nichts Zufälliges, sondern er beschreibt sein Wesen. Den Namen Werner deutete er damit, daß darin u.a. auch der Unglaube stecke. Als ich ihn auf die Nikolaiten in der Offenbarung des Johannes hinwies, brachte er diese Sekte weniger mit der Fleischeslust und Unzucht in Verbindung, die ihnen von rivalisierenden Sekten vorgeworfen wurden, als vielmehr mit Sozialismus und kommunistischer Gütergemeinschaft. Dies ist allerdings nichts Überraschendes, da die Christen der Urgemeinde in Erwartung des bevorstehenden Weltgerichts das Prinzip des Liebeskommunismus und der Gütergemeinschaft befolgten. Nun wird mein Name allerdings mit einem C geschrieben, aber im römischen Alphabet wäre auch das K entbehrlich gewesen. Wenigstens mit meinem Vornahmen dürfte Emil Josef Diemer etwas Richtiges getroffen haben, da ich tatsächlich so skeptisch und ungläubig bin, daß ich von meiner rationalistischen Einstellung her die Prophetien für etwas Suspektes halte, das ich wenig ernst zu nehmen geneigt bin.
Wenn ich dennoch eine Katastrophe in naher Zukunft nicht ausschließen will, so hat das bei mir rationale Begründungen und orientiert sich nicht daran, ob das in heiligen Büchern prophezeit worden ist. So z.B. hielt der englische Philosoph Bertrand Russell den nahen Ausbruch zweier Atomkriege bis zum Jahre 2000 für durchaus möglich und wahrscheinlich, wie er es im "Der Weg zum Weltstaat" prophezeit hat. Er erwog drei Möglichkeiten, die partielle oder die totale Vernichtung der Menschheit, vielleicht auch den Rückfall in die Barbarei für mehrere Jahrhunderte, schließlich und endlich auch den Sieg der einen Weltmacht über die andere, wobei er es für wünschenswerter erachtete, daß die USA siegen sollten, da sie dem Individuum mehr persönliche Freiheit lassen würden als der totale Staat mit restloser Gleichschaltung auf allen Gebieten. Er schrieb damals, man könne in den USA Pragmatiker, Positivist, Relativist oder sonst etwas sein, - es würde geduldet, während man in der UdSSR Gefahr liefe, auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden, wenn man sich als Biologe beispielsweise nicht der Meinung Lysenkos anschließen wolle. Ich nehme an, daß Russell hier das stalinistische Russland meint. Er schrieb nun, er könne zwar nicht wissen, welche seiner drei Prophezeiungen verwirklicht werden, aber unmöglich könne der Zustand gegenseitiger Beargwöhnung und gegenseitigem Mißtrauens noch lange andauern. Eine der drei Möglichkeiten werde bis zum Jahre 2000 gewiß eintreffen, wobei Europa im ersten atomaren Kriege mit Sicherheit vernichtet werden würde. Den Meinungsumfragen nach glaubt heute jeder siebte Engländer an die baldige Vernichtung Europas und auch der Britischen Inseln. Falls es noch ganz bald danach zu einem zweiten Atomkriege kommen würde, so wird entweder totale Vernichtung sein, oder die siegende Großmacht wird das Waffenmonopol haben und für einen dauernden Frieden sorgen.

[Diemer-Bildnis]

Wie gesagt ist dies eine rein rationalistische Überlegung, die überhaupt nichts mit biblischen Prophetien zu tun hat. Eine solche Abwägung der Möglichkeiten kann ich für akzeptabel halten, weil sie rein logisch begründet ist.
Nicht aber will es mir in den Kopf, daß diese und jene Ereignisse Zeichen der Zeit sein sollen, weil wir bereits in der Endzeit stünden und daß diese und jene Katastrophen notwendig und unvermeidlich geschehen müssen, weil alles bereits prädestiniert und im Buche der Bücher bereits festgehalten worden sei.
Aber ebenso wie heute unsere modernen Naturwissenschaften ohne Zahlen und Formeln nicht zu denken sind, begründet nun auch der Seher Emil Josef Diemer alles zahlenmäßig. Wir Skeptiker finden, daß man mit Zahlen alles beweisen kann und daß Papier geduldig ist. Ich sage das hier, obwohl ich selbst eine große Verehrung für die Mathematik habe. Nur befremdet es uns moderne Menschen, die Mathematik und die Zahlen auf rein labormäßige und spekulative Dinge anwenden zu wollen. Immerhin hatten selbst die Griechen als scharfsinnige Denker und kluge Leute einen starken Hang zur Zahlenmagie, wie es sich in der Schule des Pythagoras ausdrückt. Den Zahlen wurden gewisse Bedeutungen zugeschrieben.


Auch Goethe war von magischen Vorstellungen nicht frei. Selbst Newton, der Begründer der Himmelsmechanik, war religiöser und mystischer veranlagt als man heute zugeben will. Dies alles muß ich schonend mit erwägen, wenn man die Berechnungen Diemers nicht als unverständlichen Unsinn bezeichnen will, als den sie uns erscheinen müssen. Sonst hätte ich alles in dem einzigen Satz ausdrücken müssen: "Wie kann ein Mensch nur solche ungeheuerlichen Dinge verbreiten und selbst noch daran glauben?" Da aber auch seine weltanschaulichen und politischen Wertungen denen der modernen, freigeistigeren Menschen diametral entgegengesetzt sind, so ist mir aus der Begegnung mit dem Schachmeister Diemer klarer und verständlicher geworden, weshalb uns Nordlichtern oft das Denken der süddeutschen Menschen als ein Rätsel erscheint und weshalb wir oft nicht mit ihnen auf den gleichen Nenner kommen. Man wird davon ausgehen müssen, daß sie manche Thesen, die Streitpunkte in der öffentlichen Diskussion sind, wenigstens subjektiv ehrlich glauben. Denn Emil Josef Diemer verkündet seine Prognosen nicht, um sich interessant zu machen, er ist zumindest persönlich felsenfest von deren Richtigkeit überzeugt. Das ist es, was ich vom Phänomen Diemer sagen kann, wenn ich der ganzen Sache eine einigermaßen positive Deutung geben will. Dies muß ich ja wohl tun, denn sonst hätte ich ihn nicht in Gengenbach zu besuchen brauchen. Es war ja der Zweck meiner Reise, eine Würdigung zu schreiben. Er war übrigens froh und dankbar, in mir einen Zuhörer gefunden zu haben, dem er seine Theorien und Ahnungen entwickeln konnte. Einmal haben wir auch eine kurze Wanderung zum Standbild einer Madonna gemacht. Übrigens ist sich Emil Josef Diemer über die Gegensätze des alten Glaubens und der modernen Philosophie sehr wohl im klaren, denn er kennt natürlich auch Baruch (Genedikt) Spinoza. Natürlich wertet er auch ihn anders, als ich es erwartet hatte. Keinesfalls bewundert er das logische und kristallklare Denken des großen Denkers. Mit der Einführung des rationalistischen Denkens in die Philosophie und Theologie wurde bei Spinoza natürlich der Glaube der Väter verraten, so daß die schauerliche vielfache Verfluchung Spinozas dem Meister Emil Josef Diemer als wohl begreiflich und gerechtfertigt erscheint. Er bat mich sogar, ihm den Wortlaut des Fluches aus dem Buche "Das Buch der Ketzer" des Schweizer Theologen Walter Nigg bzw. das ganze Buch zu schicken.

Ich nahm Abschied von einem ungewöhnlichen Menschen, den ich wohl so bald nicht wiedersehen werde. Aber warum soll es nicht der Fall sein, da Diemer noch 102 Jahre zu werden hofft? Hoffentlich halte ich es noch lange genug aus, um ihm vielleicht wieder zu begegnen. Diemer begleitete mich noch bis zum Bahnhof nach Offenburg, als ich am Freitagmorgen in aller Frühe schon gegen sieben Uhr morgens von Gengenbach Abschied nahm.


Werner Nicolai


(offensichtliche Orthographiefehler korrigiert, Grammatik und Stilistik wurden aus Urheberrechtsgründen belassen, zwei Bilder beigefügt - Anm. d. A.)

Ergänzung d. A.:
Die korrekte Schreibweise von Diemers Namen ist Emil Joseph Diemer - kein "f" im Mittelnamen (Auskunft des Standesamtes Radolfzell)!


Copyright © Mai 1983 Europa-Rochade, All Rights Reserved.

zum Anfang