In diesem Jahr wäre er 90 Jahre alt geworden. Wer er war?
Die medizinische Diagnose über Emil Josef Diemer lautete 1965 bei der Unterbringung ins
Kreispflegeheim Fußbach: Prophetenwahn bei alter paranoid-halluzinatorischer Psychose.
Aber es gibt über jeden Menschen unzählige Diagnosen. Herbert Zoberst, der Emil Josef Diemer
25 Jahre lang kannte, und jahrzehntelang das Zweibettzimmer in Fußbach mit ihm teilte, sagte ganz
schlicht noch vor wenigen Tagen: Er war ein guter Kamerad. Er war ein guter Mensch.
Emil Josef Diemer war ein von manchen vergöttertes, von manchen verteufeltes Schachgenie. Er prägte
eine ganz bestimmte Spieleröffnung, die heute noch seinen Namen trägt: Das moderne
Blackmar-Diemer-Gambit.
"Von Anfang an auf Matt!" war sein Grundsatz, den er mit Vehemenz verteidigte
gegen alle Taktiererei auf Remis. Bücher sind darüber geschrieben worden, eine Diemer-Gemeinde hat
sich etabliert, Gedenkspiele werden organisiert. Einer seiner Schüler hat eine Biographie über ihn
geschrieben, die mehr Fragen offen läßt als sie beantwortet. Groß- und Weltmeister versuchten das
Diemersche Gambit, manche verwarfen es, manche benutzten es.
DER SCHACHMEISTER: der Gengenbacher Maler
Otto Lohmüller hat Emil Josef Diemer acht Jahre vor seinem Tod porträtiert (1982 - Anm. d. A.)
Viele haben ihn
gesehen und erinnern sich gern, wie er morgens zu Fuß auf der Landstraße von
Fußbach, wo er im Lauf der Jahre freien Ausgang erhalten hatte, nach Gengenbach
ging, eine dürre, lange Gestalt (1,90 m) mit weißem Bart. Viele haben ihn in der
Stadt gesehen, im Cafe Birnbräuer etwa. Dort saß er immer am selben Platz, las
Zeitung, und telefonierte mit der ganzen Welt, mit Gorbatschov oder Schäuble,
und natürlich nahm ihn keiner von denen mehr so ganz ernst, und die Wirtin bat
ihn schließlich, zum Telefonieren doch hinüber in die Post zu gehen, dort würde
er auch die anderen Cafegäste nicht stören. Seit Eröffnung des Cafes im Jahr
1972 saß er hier auf seinem Stammplatz, freundlich geduldet und immer willkommen
bis zuletzt. Die Wirtin meinte, es sei ein schmaler, ein hauchdünner Pfad
zwischen Genie und Wahnsinn, das könne man bei ihm lernen. Der Gengenbacher Otto
Lohmüller malte ihn hier (Abb.: Schachmeister)
Diemers Schwester lebt in Baden-Baden, betagt und voller Erinnerungen. Schach war sein Leben,
sagt sie. Geboren wurde er in Radolfzell, die Schule besuchte er in Karlsruhe. Dort hat er
auch sein Abitur gemacht, hat aber danach keinen Beruf ausgeübt. Überhaupt: ohne
helfende Hände wäre er überhaupt nicht über die Runden gekommen. Er starb verschuldet, die Schwester
hat das Erbe (die Schulden also) ausgeschlagen.
Sein Erbe? Das sind auch endlos viele Zahlenbriefe. Diemer, der in den dreißiger Jahren ein
bekannter Schachjournalist war und aus dem Ausland ins Reich berichten durfte, hat in den 60er Jahren
jenes Erlebnis gehabt, das die einen als Ausbruch einer Schizophrenie ansehen, die anderen als
religiöses Erlebnis (er hielt sich für die Reinkarnation des Erzengels Gabriel).
Von nun an widmete er für Jahre seine ganze Kraft dem Entschlüsseln geheimer Botschaften., die sich
hinter den Dingen, auch hinter den Zahlen verbargen und nur dechiffriert zu werden brauchten.
Er konnte sich dabei auf eine jahrtausendealte
Tradition berufen. Die jüdische Kabbala, die griechisch - römischen
Weissagungen, die mittelalterlichen Visionen einer Hildegard von Bingen, vor
allem Nostradamus - sie und viele, viele andere hatten versucht, die Welt als
verschlüsselte Botschaft zu sehen, zu lesen und zu deuten.
ZAHLEN, ZAHLEN, ZAHLEN: Ist es das, was die Welt im Innersten zusammenhält? Der
Schachmeister Emil Josef Diemer versuchte, die Welt als verschlüsselte Botschaft zu verstehen.
Berühmt geworden ist
eine Bibelstelle in der Apokalypse des Johannes, wo der Antichrist als Zahl
angegeben ist! Endlos viele kleine und große Geister haben diese Zahl zu deuten
versucht. Auch im Offenburger Museum im Ritterhaus befindet sich eine derartige
Rechnung, die - ganz dem damaligen Zeitgeschmack der Französischen Revolution
entsprechend - Frankreich zum bösen Tier Antichrist erklärt!
Von der
Richtigkeit seiner Berechnungen war Diemer fest überzeugt. Sie brachten ihn
schließlich erst nach Emmendingen ins Landeskrankenhaus, dann ins Pflegeheim:
Bei der Beerdigung eines Mannes schrie Diemer damals dazwischen, er habe das
Sterbedatum genau berechnet, es könne einfach nicht sein, daß der Mann tot sei,
hier würde ein Lebendiger begraben.
In Fußbach fand er schließlich Pflege und Unterkunft. Das Heim erlaubte ihm auch
Reisen zu nationalen und internationalen Schachturnieren. Diemer plagte dabei
zwar die anwesende Schachgemeinde ständig mit seinen Prophezeiungen, verblüffte
aber nach wie vor durch sein Schachspiel, und konnte sogar einen Freiburger Schachclub
mit seinem Spiel in die höhere Liga bringen. Sein Spielplatz war immer umlagert,
vor allem von jüngeren Spielern, die er allein schon durch seine Erscheinung faszinierte,
aber natürlich auch durch sein freies, unkonventionelles Spiel.
Seine
Schwester: "Er hat es mit den Zahlen gehabt, man hat jedoch nichts damit
anfangen können. Interessant ist aber, daß er an einem 10.10. gestorben ist".
Die amtliche Sterbeurkunde ist noch genauer: Tatsächlich starb er am 10. 10. 90,
10 Uhr 10! Ganz wie die Schwester meinte: Er hat es mit den Zahlen gehabt. Emil
Josef Diemer ruht im Frieden des wunderbaren Bergfriedhofes des Pflegeheimes.
Eine schlichte Platte bezeichnet sein Grab. (Anm.: Dank an Familie Buggle für
den vertrauensvollen Hinweis, an Michael Horn, an die Damen und Herren des
Pflegeheimes, an Herbert Zoberst!)
(Stilistik der Quelle belassen, Bilder beigefügt - Anm. d. A.)