Zwei Köpfe beugten sich über den Tisch, und ein Zeigefinger fuhr ein wenig unschlüssig über die
Autokarte. Wohin diesmal an einem freien Tag, nach Weinstraße und Ladeburg bei Heidelberg? Herwig
meinte, der Schwarzwald wäre ein schönes Ziel.
Ja, der Schwarzwald... aber wohin?? Den Schwarzwald brachte ich bisher nur mit ein paar kitschigen
Ansichtskarten in Verbindung. Doch plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke: Baden..., Schwarzwald...,
Fußbach... - Fußbach und Diemer! Sofort durchforstete ich das Kartenregister - Fußbach..., Fußbach...
Fußbach - tatsächlich verzeichnet! Und wieder die Karte gedreht und gesucht - da, Fußbach. Irgendwie
doch seltsam: vor Augenblicken noch keinen Gedanken daran verschwendet, und nun ein faszinierendes
Ziel vor Augen...
Es war ein mild-kühler Herbsttag, hin und wieder etwas Sonne. Die Strecke "zog sich" auf der Autobahn.
Abfahrt Offenburg, auf der B33 nach Gengenbach - es kam Bewegung ins Geschehen: Gengenbach war mir
ein Begriff aus der Historie um Diemer, so auch die Bundestraße B33. Die Landschaft flach wie ein
Tisch, ländliche Idylle. Und schließlich der Vorwegweiser Fußbach - und immer noch kam mir alles ein
wenig unwirklich vor. Wir erreichten Fußbach zur Mittagsstunde und mußten nicht suchen - der Gasthof
Rebstock liegt an der Hauptstraße, war nicht zu übersehen.
Auf dem kleinen Parkplatz gegenüber dem Gasthof streckte ich nach dem Aussteigen erst mal meine
Glieder nach der langen Fahrt und ließ alles auf mich wirken. Der Gasthof selbst war mir von Fotos
mit Außen- und Innenansichten bekannt, aber jetzt stand ich davor! Ich weiß von Diemer seit etwa 25
Jahren, erhielt gar einmal Post von dem guten Mann. Seit nun fünf Jahren schon unterhalte ich mein
Webprojekt mit mühselig noch recherchierbaren Informationen, weiß über Diemer daher nicht wenig,
stellte mir gar vor zwei, drei Jahren vor, doch einmal eine kleine Reise zu unternehmen - und nun
war ich unverhofft hier!
Herwig fragte, ob wir gleich hineingehen wollten, aber ich meinte, jetzt zur Mittagsstunde sei doch
sicherlich Hochbetrieb - vor dem Haus eine ganze Reihe von Autos, wollen wir nicht zunächst den
Waldfriedhof aufsuchen und anschließend in den Gasthof? Gesagt - getan, an der Pförtnerloge des
Altenpflegeheimes erfragten wir den Weg. Und nach wenigen hundert Metern hinter dem Gasthof tauchten wir
in einen kühlen Hochwald ein. Von diesem Waldfriedhof wußte ich nichts weiter, kannte lediglich
Fotos von Diemers Grabstelle. Unweit des Eingangs stellten wir das Auto ab. Wir waren allein auf dem
Friedhof, der gänzlich im Hochwald eingebettet liegt.
Mit dem Bild im Hinterkopf bewegte ich mich mit einigermaßen gemischten Gefühlen über
das Gelände, suchte auf einem ersten Grabfeld vergeblich, suchte mich an den Todesdaten zu
orientieren, auch auf einem zweiten Grabfeld ohne Glück, und stand dann doch unvermittelt davor.
Es war alles andere als Gleichmut, was mich bewegte...
Und tatsächlich: Was ich bereits nach dem mir bekannten Foto vermutete, ist wirklich wahr - Diemers
Name wurde auf seiner Grabplatte falsch geschrieben hinterlegt. Muß man dies einem Mann auf seinem
letzten Weg antun? Für mich ein Indiz, daß Diemer ohne Familie zu Grabe getragen wurde...
Diemers Grabtafel in 2006
Diemers Reihengrab in 2006
Nach zwei Fotos von Diemers Grab wanderten wir noch ein wenig im Umfeld des Friedhofes, schauten
auf Fußbach im Tal hinab, empfanden Ruhe und Frieden über der Landschaft...
Und zur späten Mittagsstunde standen wir wieder vor dem Gasthof, hungrig und neugierig
zugleich.
Durch einen kleinen Vorraum mit Wandtelefon erreicht man die alte Gaststube. Ich wußte von der
Website des Gasthofes, daß das Haus vor Jahren einer Rekonstruktion unterzogen wurde und erwartete
nicht wirklich, noch etwas von der historischen Atmosphäre wiederzufinden. Und ich wurde nicht
"enttäuscht": alles sauber, ordentlich, aber altbekannt, nichts mehr vom Flair eines
ländlichen, historisch gewachsenen Gasthauses mit von Rauch und Staub gedunkelten Hölzern, Patina
auf Beschlägen und altehrwürdigem Gestühl, und das ist schade.
Gleich links erkannte ich die Sitzecke unter den Fenstern zur Straße wieder, und fast dünkte mich,
Diemer dort sitzen zu sehen, wie er "Rat hielt". Ich wußte aus den Geschichten um Diemer,
daß dieser Gasthof wie ein zweites Zuhause für ihn war. Er hatte beinahe täglich hier gesessen,
Kaffee getrunken, Zeitung gelesen, Korrespondenz erledigt, in diesem Gastraum, in dieser Sitzecke,
all' die Jahre freundlich geduldet von den Gasthauseignern.
Links am Tresen vorbei geht es in einen großen unpersönlichen Gaststubenanbau, er war immer noch
voll besetzt und wirkte eigentlich nur ungemütlich. Schnell war ich mir mit Herwig einig, doch im
alten Gastraum vorn Platz zu nehmen. Und ich bemerkte auch sofort das einzig Ungewöhnliche in diesem
Ensemble: eine Fotografie von Diemer, an der Wand links vom Tresen - aaahhhh!
Diemer-Foto im Gasthof
Wenn schon keine historisch anheimelnden Räumlichkeiten, so wollte ich doch wenigstens bodenständig
essen - Spätzle. Eine Frau in mittleren Jahren bediente, eine gepflegte Erscheinung in
ländlich-typischer Kleidung, und mit unverkennbar kräftigen Händen. Meine stillschweigende Sicht:
eine Bäuerin in einem Nebenjob. Die Frau war freundlich und bot auf unsere Nachfragen zu Diemer von
selbst an, den Wirt an unseren Tisch zu bitten. Die Spätzle waren gut und sehr sättigend. Mir
fehlte zu meinem Glück nur noch ein Kontakt zu den Wirtsleuten.
Und tatsächlich, nach dem mittäglichen Hochbetrieb setzte sich ein jüngerer Mann in den Dreißigern
zu uns an den Tisch, der Juniorchef und Sohn der früheren Eignerin des Hauses. Er bestätigte, daß
Diemer ziemlich regelmäßig zu Gast war, erzählte, daß er nicht selten lange und lauthals im Vorraum
telefonierte, hin und wieder auch mal anschreiben ließ, oft zu Fuß den langen Weg über die
Bundesstraße nach Gengenbach ging, nur um sich seine Zeitung zu kaufen, und daß er überhaupt ein
sehr seltsamer Mann war, dem die Buben des Ortes so manchen Streich spielten. Lachend erinnerte sich
der Mann an eine Situation in jungen Jahren, als Diemer an der Straße stehend eine große Zeitung
las, weit aufgeschlagen kurz vor dem Gesicht haltend, und die Burschen ihm die Zeitung in Brand
setzten, Diemer erst aufmerksam wurde, als er nur noch Teile der Zeitung in Händen hielt.
Im Nachhinein bedauere ich, längst nicht all' das nachgefragt zu haben, was für mich von Interesse
war, es lag mir in diesem Augenblick leider nicht auf der Zunge. Aber immerhin durfte ich noch die
Fotografie von der Wand nehmen, um diese mir unbekannte Aufnahme von Diemer abzulichten.
Doch alles in allem bin ich dankbar, unverhofft die Gelegenheit gehabt zu haben, ein winziges
Stückchen Diemers Spuren folgen, Authentizität atmen zu dürfen.