Hin und wieder tauchen Hinweise auf in Verbindung mit Diemers teilweise unrühmlicher
Vergangenheit.
Erste Anstöße gibt GM Rees biographischer
Abriß zu Diemer, detaillierte Darstellungen finden sich in Studiers Diemer-Biographie:
Mitgliedschaft in der NSDAP, unbedarfte Gefolgschaft hinsichtlich NS-Ideologie, andererseits
unbefangener Umgang mit jüdischen Schachspielern bis zuletzt; manch' anderen Verlautbarungen
hingegen mangelt es einfach an sachlichem Bezug.
Durchaus ernst zu nehmen ist der folgende sehr interessante Beitrag der Wiener Zeitung aus 1998,
worin Diemer in einem Atemzug mit Gutmayer "... Rassismus und faschistischen
Gedankenguts..." bezichtigt wird; in dieser Kürze aber im Widerspruch stehend zu
Studiers Aussagen.
Und: Gutmayer hat zweifellos viele Schachbücher geschrieben, Diemer hingegen ein
einziges - also sachlich schon unrichtig. Und es fehlt hier leider am Beweis...
Hundert Jahre Wiener Schachleben
Von Matthias G. Bernold
Sonntag, dem 25. Oktober 1998, wird im Wiener Rathaus das XIII. Internationale Schach-Open
stattfinden. Hundert Jahre davor, am Dienstag, dem 31. Mai 1898, begann in den Räumlichkeiten des
Wiener Schachclubs das Internationale Kaiser-Jubiläums-Schachturnier. Wiens Schachleben zwischen
den beiden Veranstaltungen spiegelt die Wiener Gesellschaft wider, mit all ihren Höhen und Tiefen,
glanzvollen wie bräunlichen Seiten . . .
Das Turnier, das vor hundert Jahren in den noblen Räumlichkeiten des "Wiener Schachclubs" ausgetragen
wurde, steht am Beginn eines Zeitraums, den der große Schachmeister Milan Vidmar (1885 bis 1962)
"goldene Schachzeiten in Europa" nennt. In jener Zeit zwischen Jahrhundertwende und 1930 erlangen
das Spiel und seine Protagonisten bis dato noch nie dagewesene Popularität. Das
Kaiser-Jubiläums-Turnier ist einer jener zahlreichen internationalen Wettkämpfe, die
damals überall in Westeuropa stattfinden und oft sechs Wochen oder länger dauern.
Erstmals wird ein Weltmeister gekürt, und es etabliert sich ein Ring von Großmeistern, die
quer durch Europa von Turnier zu Turnier ziehen.
Meist sind diese Schachspieler nach heutigen Maßstäben zwar arme Teufel, ihre soziale Situation
ist jedoch besser als je zuvor. Spieler wie Wilhelm Steinitz, Emanuel Lasker oder José Raul
Capablanca sind über den Kreis der Schachspieler hinaus gut bekannt und gefeierte Stars.
Schachlehrbücher erreichen hohe Auflagen, und keine renommierte Tageszeitung kommt ohne
umfangreiche Schachkolumne aus. Überall in Europa schießen neue Spielstätten aus dem Boden –
Schach ist zum fixen Bestandteil des kulturellen Lebens geworden.
Goldene Schachzeiten in Wien
Neben London, Paris und Berlin zählt auch Wien zu einem der bedeutendsten Zentren des Spielgeschehens.
Der Aufschwung in der Haupstadt des k. u. k.-Staates erfolgt plötzlich. Zuvor war das Wiener
Schachleben träge vor sich hingeplätschert, wer intensiv oder gar berufsmäßig Schach spielte,
galt als Haderlump, als "Luftmensch", und war alles andere, nur keine angesehene Person. Lange
Zeit fand das Schachspiel ausschließlich Erwähnung in Glücksspielpatenten und Verbotsgesetzen.
Während in Wien bis 1870 kein einziges nennenswertes Turnier stattfindet, zählen wir dann von 1873
bis 1925 nicht weniger als 20 internationale Großmeisterturniere. Auch kommt es ab 1870 zu großen
Fortschritten bei der Schachtheorie: Die "Wiener Schule" wird weltbekannt und Wegbereiter der
Moderne im Schach.
Wien erlebt in jener Zeit aber nicht nur "goldene Schachjahre", auch andere Bereiche stehen in
Hochblüte: Freud entwickelt die Psychoanalyse, Philosophen gründen den "Wiener Kreis". Die "Wiener
Medizinische Schule" und die "Wiener Schule der Nationalökonomie" erlangen Weltruhm. Niemals zuvor,
und nie wieder danach gingen so viele Nobelpreise nach Wien. Auch in Kunst und Literatur werden
neue Wege beschritten. Oft wird auf das Schachspiel Bezug genommen. Fast alle der österreichischen
Schriftsteller dieser Zeit erwähnen das Spiel. Stefan Zweig setzte ihm mit seiner "Schachnovelle"
sogar ein Denkmal.
Immigration als Auslöser
Der plötzliche Aufschwung hat zwei Ursachen: Die erste heißt Immigration. Aus allen Winkeln des
Habsburgerreiches streben geniale Persönlichkeiten in die Hauptstadt. Bis in die siebziger Jahre
immigrieren vor allem Juden aus den Kronländern der österreichischen Monarchie. Unter den
Einwanderern sind zahlreiche hervorragende Schachspieler und Theoretiker: Neben dem späteren
Weltmeister Steinitz sind auch die Schachmeister Berthold Englisch, Ernst Falkbeer und Adolf
Albin Zugereiste. 1881 kommt es erneut zu massiven Einwanderungswellen. Nach der Ermordung des
russischen Zaren Alexander II. hat sich die Situation der Juden in Rußland und Polen dramatisch
verschlechtert. Die Reformen des Zaren hatten das Leben der jüdischen Bevölkerung erleichtert:
Leibeigenschaft war aufgehoben, in einigen Bereichen die Rechtsstellung der Juden gestärkt worden.
Mit dem Tod des Zaren endet diese Phase vorsichtiger Liberalisierung und Emanzipation abrupt.
Antijüdische Gesetze werden erneut in Kraft gesetzt, Pogrome offiziell geduldet und oft sogar von
der Regierung angezettelt.
Was folgt ist eine gewaltige Massenflucht des Ostjudentums. Über zwei Millionen Juden fliehen ab
1881 in die Großstädte der Donaumonarchie und weiter gegen Westen. 1880 lebten in Wien noch
75.000 Juden, bis zum Jahr 1900 verdoppelt sich ihre Zahl. Die meisten von ihnen leben im 20.
Bezirk und in der im Volksmund "Mazzesinsel" genannten Leopoldstadt, wo sie bis zu 50 Prozent
der Bevölkerung stellen; viele sind arm und bewohnen Elendsviertel. Mit dieser zweiten Flüchtlingswelle
kommen u. a. Ossip Bernstein, Akiba Rubinstein und der Schachavantgardist Aaron Nimzowitsch nach
Westeuropa. In Wien landet z. B. Savielly Tartakower, der beide Eltern bei einem Pogrom verloren
hatte. Der zweite Grund für Wiens "goldene Schachzeiten" ist in der Unterstützung durch einige
wenige jüdische Mäzene (u. a. Rothschild, Kolisch, Trebitsch) zu sehen, die dem Spiel finanziellen
Rückhalt geben und überregionale Veranstaltungen fördern. Zahlreichen mehr und weniger begabten
Spielern wird erst durch die Zuwendung der schachbegeisterten Millionäre eine bürgerliche Existenz
ermöglicht. Der Großmeister Ignatz Kolisch (1839 bis 1889) bringt es durch die anfängliche
Unterstützung Rothschilds sogar zum Millionär und finanziert später selbst Turniere.
Die Wiener Schachszene kennt zwei Zentren: das Café Central in der Herrengasse und den Wiener
Schachclub im Palais Herberstein. Bereits 1839 gab es in Wien 88 Cafés, ihre Zahl steigt im Lauf
der nächsten Jahrzehnte auf einige hundert. Wie Michael Ehn und Ernst Strouhal in ihrem Buch
"Luftmenschen – Die Schachspieler von Wien" darlegen, ist der Aufstieg der Wiener Kaffeehäuser
eng mit dem des Schachspiels verknüpft. Die Kaffehäuser waren wie geschaffen als Bühnen des
Schachspiels: Man trifft sich zum Gedankenaustausch und politischen Gespräch, soziale Unterschiede
sind in diesem "Korridor zwischen Öffentlichkeit und Privatheit" zweitrangig.
Café Central und Wiener Schachclub
Das Café Central ist der wichtigste Treffpunkt von Intellektuellen, Künstlern und Politikern aller
Couleurs. Durch die räumliche Nähe der Schachspieler zu den Intellektuellen gewinnt das Spiel
hohen kulturellen Stellenwert. Zumindest die Regeln und die wichtigsten Eröffnungen zu beherrschen
und über den Verlauf von Turnieren Bescheid zu wissen, gehört zum guten Ton der kulturellen Elite
der Stadt.
Neben dem Café Central ist der Wiener Schachclub die bedeutendste Institution des Schachlebens.
Im Unterschied zum bohèmehaften Treiben im Café ist der Schachclub exklusiver Treffpunkt der
Wiener Ober- und Mittelschicht. Baron Albert Salomon Anselm von Rothschild und der Großindustrielle
Leopold Trebitsch, die hinter dem Klub stehen, ermöglichen den 600 Mitgliedern gegen einen
Jahresbeitrag von 4.000 Schilling Spiel- und Trainingsbedingungen, wie sie heute jeden Vereinsspieler
in seinem verrauchten und schmuddeligen Clubraum vor Neid erblassen ließen: Der Klub ist mit
Konversations- und Lesesälen, Raucher- und Nichtraucherzimmern, einem Damen- und einem Billardsalon,
dazu 16 geräumigen Spielzimmern, Küchen, Garderoben und Nebenräumen ausgestattet. Regelmäßig werden
internationale Turniere veranstaltet, und alle Weltmeister sind im Klub zu Gast.
Nach dem Ende des ersten Weltkriegs geht aus der Donaumonarchie die Republik "Deutsch-Österreich"
hervor. Ähnlich der Spaltung der Gesellschaft in unversöhnliche politische Lager ist auch die
Gruppe der Schachspieler uneins: Die Deutschnationalen gründen den "Deutschen Schachverein Wien",
Sozialdemokraten die "Arbeiterschachbewegung", und die jüdischen Schachspieler formieren sich in
der Schachsektion der Hakoah, dem Jüdischen Sportverein.
Alle drei Schachvereinigungen gehören dem Österreichischen Schachverband an und treffen sich
regelmäßig, um Wettkämpfe auszutragen. Die politische Rivalität unter den Schachvereinen verschärft
sich zusehends. Auch die Gangart bei den Turnieren wird härter. Teilweise eskalieren die
prestigeträchtigen Duelle zwischen dem Deutschen Schachverein und der Hakoah, für einen geregelten
Ablauf der Wettkämpfe wird eine Austragung auf "neutralem Boden" unverzichtbar. 1927 nehmen einige
Landesverbände des föderalistisch organisierten Österreichischen Schachverbandes "Arierparagraphen"
in ihre Satzungen auf, was die Mehrzahl der Wiener Vereine nicht akzeptiert. Eine Spaltung des
Verbandes in eine "Gruppe Wien" und in einen "Alpenländischen Schachbund", die nichts miteinander
zu tun haben wollen, ist 1935 die Folge.
Die politische Spaltung läßt auch das gesamtösterreichische Schachleben auseinanderbrechen.
Mangels einer Einigung können keine in ganz Österreich anerkannten Vertreter zu internationalen
Turnieren entsandt werden, und auch die Bestellung einer offiziellen Mannschaft für die Schacholympiade
1937 in Stockholm erweist sich als unmöglich. Nach der Beseitigung der Demokratie 1934 wird auch
die Arbeiterschachbewegung zerschlagen. Sie hält sich allerdings im "Roten Wien" unter Tarnnamen
in vielen kleineren Vereinen bis 1938 weiter.
Rassismus und Judenhetze
Die prekäre soziale Situation der Zwischenkriegszeit ist der ideale Nährboden für Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus. In allen Bevölkerungsschichten und fast allen politischen Lagern werden die
Juden als ideale Sündenböcke wiederentdeckt. Auch die Schachliteratur wird ideologischer
Tummelplatz: Autoren wie Franz Gutmayer und später Emil J. Diemer wettern in zahlreichen
Schachbüchern erbittert gegen das "feige jüdische Spiel" und verknüpfen erstmals Schachtheorie
mit Rassismus und faschistischem Gedankengut. Dem Positionsspiel der Moderne, dessen Protagonisten
meist Juden waren, wird das Ideal einer, freilich fiktiven, deutschen Romantik gegenübergestellt.
Das endgültige Aus für das internationale Schachspiel erfolgt dann mit dem Anschluß 1938.
Zahlreiche Schachmeister emigrieren oder werden ermordet. Noch bestehende Vereine werden NS-Organisationen
eingegliedert oder aufgelöst. Sogar die Lehrbücher werden umgeschrieben und arisiert:
Jüdische Meister nennt man entweder gar nicht oder nur mit ihren Verlustpartien. Es
ist die Zeit des Alexander Aljechin. Der begnadete Kombinationsspieler übernimmt 1927 den
Weltmeistertitel von Raul José Capablanca. Von den antisemitischen Schachschriftstellern übernimmt
er ab 1938 auch Themen und Schreibstil. In zahlreichen Artikeln formuliert er Kriterien für die
Unterscheidung von "jüdisch-opportunistischem" und "arisch-romantischem" Schachspiel. Seine
antijüdischen Haßtiraden schmerzen um so mehr, wenn man bedenkt, daß sich mit Aljechin erstmals
ein Spitzenspieler findet, der sich dafür mißbrauchen läßt, den Rassismus in die Schachtheorie
hineinzutragen. Die Abqualifizierung jüdischer Meister, mit denen er noch vor wenigen Jahren
gemeinsam am Schachbrett gesessen und die er für ihr Spiel in zahlreichen Kommentaren gelobt hatte,
entlarvt Aljechin als Lügner und egozentrischen Opportunisten. Er lieferte dem NS-Regime den
theoretischen Unterbau, eine Rechtfertigung für die absurde Rassenhetze und das staatlich
verordnete Unrecht.
Tristesse nach dem Krieg
Nach dem Krieg gleicht das Wiener Schachleben einem Trümmerhaufen. Der größte Teil der Mäzene und
Meisterspieler ist tot oder emigriert. Wie so oft in Österreich behielt auch hier ein Gutteil der
nationalsozialistisch vorbelasteten Funktionäre seinen Posten. Nur die Namen der Vereine und
Organisationen änderten sich. Ansonsten galt die Parole: Totschweigen, Aussitzen, nur nicht mit
der Vergangenheit sich beschäftigen. Der Unlust, mit Vergangenem konfrontiert zu werden, entsprang eine
neue Geisteshaltung: Das Schachspiel wurde vollkommen der Realität enthoben und entpolitisiert
betrachtet. Die Spieler früherer Zeiten waren nur mehr durch ihre Partien, Erfolge und Eröffnungssysteme
von Bedeutung. Ihre persönlichen Schicksale, ihre Taten und Untaten fand man uninteressant.
Nur so läßt sich die große Zahl der Vereine erklären, die nach Aljechin benannt wurden.
(Auch in Wien existiert ein großer Schachverein, der den Namen des zwielichtigen Weltmeisters
trägt.)
Nun wird man zwar dem Spiel frönen können, ohne auch nur jemals einen einzigen Gedanken an das
Drumherum zu verschwenden. Ohne Interesse an der jüngsten Geschichte des Schachs wird sich
allerdings weder das enge Denken in vereinsmeierischen Kategorien überwinden noch das Ansehen
des tausend Jahre alten Spiels stärken lassen. Das kommende Schachturnier im Wiener Rathaus kann
ein erster Schritt sein, der einstigen Schachmetropole Wien wieder mehr Bedeutung und Glanz zu
geben. Um an vergangene "goldene Schachzeiten" anzuknüpfen, wird der Blick auf die Gründe für
deren Ende Voraussetzung.
Buchtip: Michael Ehn/Ernst Strouhal: Luftmenschen – Die Schachspieler von Wien, Sonderzahl-Verlag
Veranstaltungshinweis:
XIII. Internationales Wien-Open, 25. Oktober bis 2. November im Wiener Rathaus mit vielfältigem
Rahmenprogramm, Info:
Tel. +43/1/523 97 00, E-Mail: chess-vienna@eunet.at
Ergänzung d. A.:
Obiger Beitrag wurde hinsichtlich Orthographie/ Grammatik durchkorrigiert; für einen
professionellen Schreiber erstaunlich viele Fehler – auch die Österreicher teilen sich
eine gemeinsame deutsche Orthographie und Grammatik...