Die Mitteilung im Schach Echo war knapp. Auf einer Seite mit anderen "kurzen
Berichten aus aller Welt" wurde in einer einzelnen Notiz mitgeteilt, daß "am 10.
Oktober [1990] der bekannte Badener Schachtheoretiker und Turnierspieler Emil Josef Diemer im Alter
von 82 Jahren in Fußbach in Südbaden starb. ... geboren am 15. Mai 1908 in Bad
Radolfzell... vielen Gambitfreunden gut bekannt... trug maßgebend zur Erforschung des
Blackmar-Diemer-Gambits bei."
Sollten wir mehr von einem seriösen Schachmagazin erwartet haben? Vermutlich nicht. Aber
Mitteilungen in anderen deutschen Schachmagazinen waren großzügiger. In einem zweiseitigen
Artikel in der Schach Woche veröffentliche
Gerald Schendel zwei Diemer-Partien,
würdigte Diemers Verdienst um das Schach und die Tatsache, daß sein Vermächtnis
in seinem Blackmar-Diemer-Gambit fortlebt.
Das Schach Magazin 64 gab eine Kombination aus einer Partie gegen Kotek
wieder, welche auch in die Enzyklopädie der Mittelspielkombinationen
(Enzyklopädie des Schach-Informators in Belgrad - Anm. d. A.)
aufgenommen wurde. "Mit Emil Josef Diemer verließ uns eines der letzten
'Schach-Originale'. Mit Schach allgemein und mit dem Gambitspiel im besonderen, welchem er sein
ganzes Leben widmete, war sein leidenschaftliches, ungewöhnliches Leben erfüllt."
Jürgen Gegner schrieb in einem langen Artikel für die Rochade Europa,
"Mit Meister Diemer verliert das deutsche Schach eine seiner bedeutsamsten Persönlichkeiten...
Wir trauern um einen Mann, der es wie kein anderer verstand, mit seinem Enthusiasmus die Jugend
für das Schach zu gewinnen, für 'sein' Schach, wo Schönheit und Kombination mehr
galten als trockenes positionelles Spiel."
Und in seiner Schachkolumne für das große Magazin Stern veröffentlichte
Manfred Mädler eine Diemer-Partie und stellte fest, "Emil Josef Diemer errichtete
sich mit seinem Blackmar-Diemer-Gambit bereits zu Lebzeiten sein eigenes Denkmal."
Wir haben zu Diemers Turniererfolgen in früheren Ausgaben einen Überblick gegeben und
möchten uns hier nicht wiederholen. Die Leser mögen in Gunter Müllers Beitrag
Ein Leben für das Schach und meinem
Sein bestes Jahr in der Nr. 3, 3. Jahrgang ("Blackmar-Diemer Gambit
World" - Anm. d. A.) nachlesen. In dieser Ausgabe geben wir einen Artikel von Diemer
selbst wieder, Siege über einige starke Gegner betreffend - einige waren entweder Internationale
Meister oder wurden es später.
Wie Mädler feststellte, liebte Diemer das Schach einfach zu sehr, um irgend etwas anderes
zu tun. Er wurde Berufsspieler als junger Mann, und sein ganzes Leben lang mühte er sich
am Existenzminimum, kratzte es zusammen mit Schreiben, Vorträgen, Demontrationsspielen und
der Barmherzigkeit von Freunden und Anhängern.
Etwa das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens verbrachte er in einem Altersheim, daß
wir vielleicht ein Pflegeheim nennen würden, in Fußbach. Er hielt oft Rat in einem
kleinen Gasthaus, über die Straße vom Heim.
Diemer und Purser im Gasthaus Rebstock in Fußbach 1980
In den späten Siebzigern hatte ich die Freude, einige Nachmittage mit ihm über'm
Schachbrett zu verbringen, im Gasthaus Rebstock. Man konnte sich nicht lange der Ausstrahlung
seiner Persönlichkeit entziehen, seinem ungebrochenen Optimismus und Leidenschaft für
das Schach.
Diemers exzentrische Eigenheit, Vergangenes zu deuten und Zukünftiges vorherzusagen, ist
allgemein bekannt. Und so paßt es auch ins Bild, daß er und der Schachspieler Blackmar,
deren Namen für immer miteinander verbunden sein werden, im gleichen Monat, im Mai,
geboren wurden, und im gleichen Monat starben, im Oktober. Ich bin mir sicher, er würde
eine bestimmte Bedeutung daraus abgeleitet haben.
In der letzten Dekade seines Lebens verschlechterte sich das Augenlicht des alten Meisters so
sehr, daß es ihm nicht mehr möglich war, die ihm gewohnte umfangreiche Korrespondenz
fortzuführen. Obgleich er noch am Spitzenbrett seines Umkircher Schachklubs spielte, so
konnte er es nur noch mit der Nase auf dem Schachbrett - buchstäblich - um noch die Spielfiguren
zu erkennen. Ein deutscher Spieler sagte einmal, daß er sterben würde, so wie sein
Augenlicht verlöscht und er nicht mehr spielen könnte. Er kann nicht leben ohne Schach.
Tatsächlich aber wird er weiterleben. Lange, wenn heutige Großmeister und
Theoretiker längst vergessen, wenn das Schach Echo nicht mehr als zerfallenes,
vergilbtes Papier in vergessenen Archiven, wird Emil Josef Diemers Name in seinem geliebten Gambit
überdauern, und sein romantischer, heroischer Geist wird den Herzen all jener
Schachspieler innewohnen, die vom ersten Zug an auf Matt spielen!
Tom Purser
(ins Deutsche übertragen von Wieland Belka - Formatierungen entsprechen der
Quelle)