Diemer als einer der schillerndsten Schachspieler in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg –
sicherlich wahr. Aber auch eine Lichtgestalt im deutschen Schach? Wohl nicht.
Hinweise darauf geben Studiers Diemer-Biographie, GM Hans Rees Kurzbiographie
zu Diemer, Matthias G. Bernolds geschichtlicher Abriß "Hundert Jahre Wiener Schachleben"
und ein Beitrag der Wochenzeitung "Jungle World" zum Thema Völkische Sportjournalisten vor 1945.
Nachfolgender Auszug aus Edmund Bruns' Publikation "Das Schachspiel als Phänomen der
Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" zeigt eine sachliche Auseinandersetzung mit
dem Thema Antisemitismus im Schach mit allen notwendigen Quellennachweisen – und Diemer mittendrin...
Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte
des 19. und 20. Jahrhunderts
Von Edmund Bruns
erschienen im LIT-Verlag Münster, 2003
...
Unter den Großen des Schachs ist nicht nur Alexander Aljechin zu nennen, wenn es um das Thema
Antisemitismus im Schach geht, auch wenn er zweifellos als bekanntester Vertreter angesehen
werden muß. Ebenfalls zu nennen ist Joseph Diemer. Diemer war NSDAP-Mitglied, Rassist und
fanatischer Antisemit. Zu entnehmen ist dies u.a. seinem Aufsatz in der Deutschen Schachzeitung
"Schach – Kampf und Kunst", in der er nach einer Betrachtung des "lahmen und feigen
jüdischen Schachs", das nicht zu vergleichen sei mit dem "deutschen Kampfschach",
zu dem Schluß gelangte:
"Ich sehe in dieser Angst vor der Verantwortung, vor dem Risiko, vor der großen Tat, vor dem
Gefährlich-Leben den letzten Ausdruck jüdischen Einflusses auf unsere Schachjugend. Warum
sollte es auch im Schach anders sein, diesem Symbol des menschlichen Lebens, dieser
Parallelerscheinung zu allen menschlichen Auseinandersetzungen auf kulturellem und politischem
Gebiete, als auf allen anderen Gebieten des heutigen menschlichen Daseins? Hie Kampf, hie
Maginotgeist!" [38]
Diemer sah im Schach ein Symbol für das Leben. Er versuchte Schacheröffnungen nach politischen
und rassischen Merkmalen zu beurteilen. Juden waren für ihn die Verkörperung der positionellen,
geschlossenen Eröffnungen, während das deutsche Kampfschach sich durch eine offene
Partieanlage kennzeichnete und Mut zum Risiko beinhalte, sprich dem deutschen Wesen
entspräche.
Schon vor Diemer hatte der Wiener Theodor Gerbec (1887-1946) als Mitautor der Deutschen
Schachzeitung antisemitische Schriften veröffentlicht. Vor allem am Schachstil des Amerikaners
Reuben Fine versuchte er nachzuweisen, daß jüdisches Schach durch Opportunismus
und Feigheit gekennzeichnet sei. Im wesentlichen waren seine Veröffentlichungen ein
Abklatsch der antisemitischen Kapitalismus- und Modernismuskritik von Gutmayer. Er fügte jedoch
noch Kritik am Amerikanismus und am Urbanismus hinzu:
Und von Schönheit kann man bei den Partien eines Flohr oder Fine wahrhaftig nicht reden. Reines
Sicherheitsschach ist so ziemlich das Übelste, was auf den 64 Feldern verzapft worden ist.
[...] Es scheint, daß dieser Stil in erster Linie aus Amerika stammt. Das ist der gleiche
nüchterne anödende Stil, der die geschmacklosen Wolkenkratzer baut und das ganze Leben
mechanisiert und, was die Hauptsache ist, Erfolg bringt. Der gleiche Zwang, der das amerikanische
Leben in die Bahnen der Spekulation zwängt. Spekulatives Schach ist aber das Letzte, was wir
brauchen können und wird nie einen Fortschritt bedeuten. [39]
E. Strouhal zog eine Verbindung zwischen den Schriften Diemers und Gerbecs zu Oswald Spenglers
"Der Untergang des Abendlandes", welches in den 30er Jahren populär war.
Spenglers zivilisationskritisches Pamphlet war eine breit angelegte, irrationalistische Kritik an
der modernen Gesellschaft, an der Maschinenhaftigkeit und Seelenlosigkeit
des "irreligiösen und unmetaphysischen Weltständertums". Seine Kritik des Prinzips der
"Kausalität", dem Spengler die neue Idee des "Schicksals" entgegenstellte,
ließ sich auch auf das Schachspiel anwenden: "Kausalität", schreibt Spengler, "ist
das Verstandesmäßige, Gesetzhafte, Aussprechbare, das Merkmal unseres gesamten verstehenden
Wachseins. Schicksal ist das Wort für eine nicht zu bestimmende innere Gewißheit. [...] Das eine
fordert Unterscheidung, also Zerstörung, das andere ist durch und durch Schöpfung. Darin liegt
die Beziehung des Schicksals zum Leben, der Kausalität zum Tod." Das jüdische Spiel ist
destruktiv, wissenschaftlich und hingegeben ans Tote, das arische Spiel ist dagegen sich selbst
gewiß, schicksalhaft, lebendig und innerlich. [40]
Joseph Diemer kann ebensowenig wie Alexander Aljechin als Opportunist angesehen werden, wie es
möglicherweise bei Efim Bogoljubow oder Ernst Grünfeld der Fall war, die für Geld spielten,
ansonsten aber keine politischen Äußerungen von sich gaben. [41]
Obwohl nicht unerwähnt bleiben soll, daß Grünfeld aufgrund seines jüdisch klingenden Namens immer
wieder Anfeindungen ausgesetzt war, denen er wie folgt begegnete:
"Entgegen allen Verdächtigungen der Vergangenheit bin ich in der Lage, meine arische Abstammung
sogar bis zu einer vielfach beneideten und seltenen Höhe nachzuweisen!" [42]
Mit der erfolgten NSDAP-Mitgliedschaft nahm Grünfeld während des Krieges an Massenveranstaltungen
und an Wehrmachtsveranstaltungen teil und arbeitete bevorzugt für das KdF-Organ Schach-Echo. [43]
Gutmayer, Diemer, Gerbec und Aljechin verbanden Rassismus und Schach genauso wie es Alfred Pfrang,
ein Freund Diemers, und Alfred Brinckmann mit ihren antisemitischen Schriften taten. Alle lieferten
den theoretischen Unterbau für die physische Verfolgung und für die Durchsetzung einer rassistischen
Schachtheorie. Der GSB machte sich die Verurteilung jüdischer Schachspieler durch bekannte
Berufskollegen nicht nur zunutze, sondern betonte selbst seine Stellung zu ihnen...
...
...
[38] E. J. Diemer, "Schach – Kampf und Kunst", in: Deutsche
Schachzeitung 1943, S. 4. Interessant ist, daß Bundesgeschäftsführer Post einen polemischen
Artikel über Diemers Schrift in den Deutschen Schachblättern veröffentlichen ließ, um Diemer zu
begegnen, der in seinem Artikel den begabten deutschen Schachspieler Klaus Junge aufgrund seines
angeblich fehlenden deutschen Kampfgeistes angriff. Diemer sprach Junge eine Qualifikation als
Weltmeiterschaftsaspirant ab, weil dieser sich nur der Eröffnung d4 bediente. Offensichtlich
herrschte keine einheitliche Meinung darüber, was deutsches Kampfschach sei. Der Verfasser des
Artikels Dr. Dyckhoff nannte Diemer in seinem Artikel ironisch den neuen Gutmayer. Post erlaubte
die Publizierung des Artikels nicht zuletzt mit der Begründung, daß die Deutsche Schachzeitung
international gelesen werde und ein Schweigen der Deutschen Schachblätter Zustimmung bedeutet
hätte. Vgl. Deutsche Schachblätter, "Der Fall Junge. Eine Entgegnung von Dr. Dyckhoff",
Nr. 5-6/1943, S. 36.
[39] T. Gerbec, "Ist das noch Fortschritt?", in: Deutsche Schachzeitung,
1937, S. 130-131.
[41] Ob Bogoljubow sich politisch wirklich nicht äußerte, ist unklar. Er
soll 1925 beim großen Moskauer Turnier mehrere Juden beleidigt haben und nach seiner Übersiedlung
aus der Sowjetunion nach Deutschland wurde er oft als Faschistenhund bezeichnet. Vgl. dazu:
Schwäbische Rundschau, Nr. 126/1939.
[43] Bei aller berechtigter Kritik an den genannten Schachspielern darf
nicht vergessen werden, daß das Schachspiel für diese Menschen nicht nur Beruf und damit Mittel
zur Erlangung des Lebensunterhalts war, sondern vor allem Berufung. Das Schachspiel war oftmals
ihr einziger Lebensinhalt, ja Lebenselixier. Dies macht ihr Verhalten nicht frei von Kritik,
jedoch möglicherweise erklärbar.